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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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Eingeweide drückte. Mann an Mann kämpfte die Garde des Herzogs, die drängenden Bürger Brügges in Schach zu halten.
    »Was ist geschehen?«, schrie Colard einen der Bewaffneten an, der mit hochrotem Gesicht breitbeinig vor ihm stand.
    »Sie haben auf den Herzog geschossen! Die Schweine haben versucht, ihn zu ermorden.«
    Ein Mordanschlag auf den Bruder des Königs von Frankreich, auf den Schwiegersohn des Grafen von Flandern. Colard vergaß das Würgen in seinem Magen, seine eigenen Probleme und alles andere. Ihm wurde schlagartig eiskalt. Die Konsequenzen eines solchen Attentats konnten für Brügge und Flandern nur verheerend sein.
    Um ihn herum überschlugen sich die Stimmen. Gerüchte und Mutmaßungen wechselten schneller als ein Lidschlag. Wer hatte geschossen? Woher kam der Pfeil? Aus welcher Ecke der Attentäter? Wer war sein Auftraggeber?
    Gleichzeitig brachen an einer Ecke des Marktes neue Jubelrufe auf, aus denen sich schließlich ein verständliches und brausendes »Lang lebe der Herzog von Burgund« herauskristallisierte.
    »Ein Irrtum«, vernahm Colard, während die furchtsame Anspannung in geradezu hysterische Erleichterung umschlug. Nun konnte auch er sehen, weshalb.
    Jemand hatte zwei prächtig geschmückte Pferde auf den Platz geführt, und nun ritt der Herzog, an der Seite des Grafen von Flandern, hoch zu Ross das Karree ab, damit sich jedermann mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass er unversehrt geblieben war. Noch einen Augenblick länger, und die Menschen wären in Panik ausgebrochen. Nicht auszudenken, welche Folgen dies für alle gehabt hätte.
    »Platz da! Aus dem Weg!«
    Die Lanzen vor Colard, eben noch gesenkt, wurden von neuem in Stellung gebracht. Dieses Mal jedoch, um der persönlichen Leibgarde des Herzogs einen Weg frei zu machen. Die Männer mit dem Wappenhemd von Burgund umschlossen eng eine Gruppe Damen. Colard sah wehende Schleier und elegante Hauben durch die Phalanx der Bewaffneten. Sie alle umringten einen kostbar geschmückten Tragstuhl, aus dessen flüchtig zugeschlagener Tür die eingeklemmten Falten eines Hofkleides quollen. Die Farbe hatte Colard an diesem Tag schon einmal gesehen. Ein tiefes, leuchtendes Blau.
    Die Gesellschaft strebte in solcher Eile den offenen Toren des Prinsenhofes zu, dass Colard sich anstrengen musste, ihr auf den Fersen zu bleiben. Das Wappen verriet ihm, dass es sich um den persönlichen Tragstuhl der Herzogin handelte. Er wagte es, einen der Leibwächter am Arm zu packen.
    »Ich bitte Euch, sagt mir, was geschehen ist. Ich fürchte, ich kenne die Dame, die Ihr da in Sicherheit bringt. Was ist geschehen?«
    »Was kümmert es Euch?«, erkundigte sich der Mann nach einem schnellen Blick auf Colards bestes Wams und seine federgeschmückte Kappe.
    »Sie ist meine Herrin. Aimée Cornelis, nicht wahr?«
    »Sie wurde von einem Pfeil getroffen. Mehr kann ich Euch nicht sagen.«
    »Ist sie …« Colard konnte es nicht aussprechen.
    »Tot? Das wird der Medicus des Herzogs herausfinden, guter Mann. Und nun lasst mich los. Ich habe keine Zeit, Eure Neugier zu stillen.«
    Colards Hand fiel herab. Hinter ihm bejubelte die Menge den neuen Meisterschützen von Brügge.
    Was immer auf dem großen Markt geschehen war, die Verantwortlichen hatten entschieden, den Vorfall herabzuspielen.
    Die kurze Phase von Irritation und Gefahr schien vorüber. Obgleich mit einem Male überall Bewaffnete auftauchten und die Bewachung, des Prinsenhofes vor seinen Augen verstärkt wurde.
    Der Schlachtruf der Sankt-Joris-Schützen stieg aus Hunderten von Kehlen in den Himmel, während die Männer des Grafen von Flandern mit grimmigen Mienen aus der Burg marschierten.
    Sankt Joris? Colard erstarrte. Dann musste er Gleitjes Strahlen anders interpretieren.
    Der Schweiß trat ihm aus allen Poren, und er sank auf den nächsten der Prellsteine, die die Straße zum Prinsenhof säumten. Niemand beachtete ihn. Die Hitze des Tages setzte vielen Männern und Frauen zu. Die fiebrige Aufregung auf dem großen Markt zog mehr Aufmerksamkeit auf sich als ein erschöpfter Mann, der den Schatten suchte.
    »Was drückt Euch nieder, Herr de Fine? Das schlechte Gewissen?«
    Die Frage überfiel ihn aus heiterem Himmel. Er fuhr hoch und entdeckte Abraham ben Salomon, der sich aus dem Torbogen des nächsten Hauses gelöst hatte. Seine grauen Kleider und der spitze Hut ließen ihn mit dem Sandstein des Gebäudes geradezu verschmelzen. Wie lange hatte er ihn schon beobachtet? Unter dem

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