Die Stunde des Venezianers
Korte.
Colard drängte sich an ihr vorbei und ging in Richtung Brunnen. Er sah das dünne dunkelrote Rinnsal als Erster. Es ergoss sich, von der Rückseite kommend, um das Brunnenrund.
Anselm Korte lag reglos auf den Steinen. Die Kehle eine klaffende Wunde, aus der das Blut sprudelte. Die Hände in das Wams verkrallt, nach Luft ringend, die nie wieder seine Lunge erreichen würde.
Colard spürte, wie Gleitje hinter ihn trat. Der leise, fast tierische Laut, der von ihren Lippen kam, sträubte ihm die Nackenhaare. Neben ihrem Vater sank sie in die Knie. »Vater …«
Anselm Korte antwortete nicht mehr.
49. Kapitel
B RÜGGE , 9. J ULI 1372
Der wolkenbruchartige Regen versperrte ihm fast die Sicht. Contarini trieb sein Pferd an.
Auf dem Weg von Arras nach Brügge hatte er ausschließlich haltgemacht, um die Pferde zu wechseln und hastig etwas zu essen. Es zog ihn mit solcher Macht nach Brügge, dass ihm keine Strapaze zu viel war.
Die Wälle und das Stadttor tauchten so unverhofft vor ihm auf, dass er den Hengst mit aller Kraft zügeln musste, um ihn vor der Torwache zum Halt zu bringen. Die Männer waren soeben im Begriff, die schweren Flügel für die Nacht zu schließen.
»Wohin des Wegs?«, schnauzte der Torwächter. »Euer Begehr? Euer Ziel?«
»Das Bankhaus Contarini am Walplein. Seht Ihr nicht, dass ich ein Kurier bin?« Er war bei der Tarnung geblieben, die ihm bisher so gute Dienste geleistet hatte. »Man erwartet mich dort. Was ist los? Warum habt ihr die Kontrollen verschärft?«
»Der Magistrat hat sie für jedes der Stadttore angeordnet. Was habt Ihr in Eurer Botentasche?«
»Seht selbst!«
Contarini warf dem Mann die Umhängetasche hin.
»Was hat den Magistrat dazu veranlasst?«, wandte er sich währenddessen an die übrigen Männer.
»Man sucht einen Mörder, der in Brügge für Angst und Schrecken sorgt«, erfuhr er. »Niemand weiß genau, ob er noch in der Stadt oder schon auf der Flucht zur Küste ist. Wir sind angehalten, alle Vorsicht walten zu lassen und jeden Unbekannten auf Herz und Nieren zu prüfen.«
»Alles in Ordnung. Ihr könnt passieren.«
Contarini erhielt seine Kuriertasche zurück und lenkte sein Pferd in Richtung Walplein. Hinter ihm fielen dröhnend die Tore zu. Brügge schnitt sich für die Nacht von der Außenwelt ab.
Bis auf die Stadtschweine, die ungerührt vom Regen den angeschwemmten Unrat durchwühlten, begegnete er kaum einer Seele. Lag das wirklich nur am Unwetter?
Eine merkwürdige Vorahnung überkam ihn und trieb ihn noch mehr zur Eile an. Er rannte mit langen Schritten die Treppe im Haus am Walplein hinauf in das Kontor, wo er Abraham ben Salomon antraf, wie vermutet über seine Arbeit gebeugt.
»Gott zum Gruße, mein Freund. Was ist das für eine Geschichte, dass sich Brügge vor einem Mörder fürchtet?«
»Eine von den vielen Geschichten, die auf Euch warten«, entgegnete Salomon, überrascht von seiner stürmischen Ankunft. »Seid gegrüßt, Messer Contarini. Ich bin glücklich, dass Ihr von Eurer schwierigen Mission gesund und unversehrt zurückgekommen seid. Ich lasse sofort ein Bad und trockene Kleidung für Euch herrichten.«
»Nein, das kann warten. Erst muss ich ein Glas Wein haben und erfahren, was sich in meiner Abwesenheit ereignet hat.«
Salomon nahm die Weinkaraffe und die verzierten Silberbecher vom Tisch und trug sie zum Kamin. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie ungeduldig ich Euch erwartet habe«, sagte er zugleich.
Domenico öffnete die Mantelschließe und warf seinen nassen Umhang über eine Truhe. Hut und Handschuhe folgten, ehe er sich auf einem Stuhl vor dem Feuer niederließ, den Becher Wein entgegennahm und die Beine von sich streckte.
»Ihr seht aus, als hättet Ihr eine Menge auf dem Herzen, Freund Abraham«, sagte er nun langsam. »Fangt an. Ich bin gespannt.«
Er begann mit dem Brand im Hause Cornelis, ehe er das Attentat auf Aimée und die Folgen schilderte. Obwohl er seinen Bericht kurz fasste und schonend formulierte, hielt es Contarini schon nach kurzer Zeit nicht länger auf seinem Platz. Er trat an das Fenster und starrte auf den Walplein. »Wie geht es ihr jetzt?«, fragte er, als Abraham kurz innehielt.
»Sie ist auf dem Wege der Besserung, seit ich sie nach Damme gebracht habe. Die ersten Tage waren kritisch, aber nun verheilt die Wunde gut.«
»Dieser Arzt in Damme, taugt er etwas?«
»Für Nathan Simonides lege ich die Hand ins Feuer. Er ist der beste Wundarzt, den Ihr in Flandern finden
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