Die Stunde des Venezianers
Salomon. »Es geht ihr bereits so gut, dass man sie kaum noch davon überzeugen kann, Ruhe zu bewahren. Sie birst vor Ungeduld und will wie üblich alles auf einmal. Sich endlich selbst um die Manufaktur kümmern, Korte zur Rede stellen, Klaas suchen. Und … jede zweite Frage gilt Euch. Wo ist er? Wann kommt er?«
Contarini ging nicht darauf ein. Er nahm Umhang, Hut und Handschuhe wieder auf und ging zur Tür.
»Was habt Ihr vor?«
»Ich folge Eurem Rat. Ich warte den Morgen ab. Wie es aussieht, benötige ich in den nächsten Tagen sowohl meinen Verstand wie meine Kräfte. Sagt dem Haushofmeister Bescheid, dass in meiner Kammer ein Bad gerichtet wird und dass man mir eine Mahlzeit schickt. Bei Sonnenaufgang solltet Ihr mich bitte wecken lassen. Ich fürchte, dass ich nicht von alleine aufwache, wenn ich einmal schlafe.«
»Ich werde alles veranlassen«, erwiderte Salomon und griff nach der Glocke. Dann zögerte er.
»Wenn Ihr nach Damme zu Frau Cornelis geht, offenbart ihr endlich Eure Gefühle für sie. Lasst sie nicht länger im Ungewissen!«
Contarini stellte sich taub.
»Ihr müsst es tun. Es ist die Stunde, sich ein Herz zu fassen. Ihr bestimmt, welche Entscheidungen sie für ihre Zukunft trifft. Ich kenne Briefe der Herzogin, die bei ihrer Mutter in Regnault ist. Ich fürchte, die Herzogin übt wieder Druck aus. Man spricht bereits davon, dass Frau Cornelis künftig bei Hofe bleiben wird. Wenn sie stattdessen Brügge wählen soll, müsst Ihr ihr einen guten Grund dafür geben. Einen Grund, der nicht ausschließlich geschäftlicher Natur ist.«
»Habt Ihr vergessen, dass sie jemandem ihr Wort gegeben hat?«
Contarini rang sich die Worte mit erkennbarem Widerwillen ab.
»Ihr sprecht von Alain von Auxois? Was soll sie mit einem Mann, der nie da ist, wenn sie ihn braucht, der Kriege für den Herzog führt, statt an ihrer Seite zu sein? Auch ich kann niemandem ins Herz sehen, aber ich habe eine gute Menschenkenntnis, was Ihr mir nicht absprecht. Ich habe zwei Jahre lang ihre Fragen nach Euch beantwortet, und sie ließen für mich keinen anderen Schluss zu als den, dass sie Euch liebt. Glaubt mir, es ist falsch, wenn Ihr Eure Gefühle nicht zu erkennen gebt.«
Contarini schwieg. Er gab ihm recht, seine Menschenkenntnis hatte er nie bezweifelt. Trotzdem wusste er nicht, was er tun sollte. Nur eines wusste er. Er liebte Aimée.
»Ich vertraue Euch diese neuen Briefe aus Regnault an. Ich hatte im Sinn, sie morgen nach Damme zu bringen.« Abraham trat an den Tisch und griff nach einem Päckchen, das in gewachste Leinwand geschlagen war und das Siegel der Herzogin von Burgund trug. Er drückte Domenico das Paket in die Hand und trat zurück.
»Ich wünsche Euch eine gute und erholsame Nacht, Messer Contarini. Im Übrigen bin ich glücklich, Euch wieder unter diesem Dach zu wissen.«
Domenico sah erst die Briefe und dann seinen Stellvertreter an.
»Ihr seid froh, mir die Probleme aufbürden zu können.«
»Ich kann es nicht leugnen.«
50. Kapitel
D AMME , 20. J ULI 1372
Aimée war von solcher Unruhe erfüllt, dass sie kaum an sich halten konnte. Sie bemühte sich zwar, ihre Anspannung vor Lison und Nathan Simonides zu verbergen, aber je weiter der Vormittag fortschritt, umso schwerer fiel es ihr. Der jüdische Arzt hatte ihre Wunde mit einem leichten Verband bedeckt und sie vor allzu heftigen Bewegungen gewarnt. Er war mit dem Fortschritt der Heilung zufrieden. Aimée ging es zu langsam. Sie sehnte sich nach Normalität, nach Arbeit, nach Ablenkung.
Immer wieder stand sie auf und trat ans Fenster der kleinen Kammer, die sie im ersten Stock des jüdischen Hauses bewohnte. Es stand am Ende des Hondsdammes, von den Lagerhäusern des Hafens entfernt, und war möglichen Überschwemmungen des Zwin stark ausgeliefert.
In erster Linie waren die Lagerhäuser dafür da, eingelegten Fisch und volle Weinfässer bis zu ihrem Verkauf aufzubewahren. Der damit verbundene, allgegenwärtige Gestank nach Hering und verschüttetem Wein lag wie eine Wolke über den Kais. Damme war nicht nur Brügges Tiefwasserhafen, es war auch Flanderns größtes Weinhandelszentrum.
Aimée war froh und dankbar dafür, in dieser Abgeschiedenheit in Ruhe gesunden zu können. Hier kam nur der Salzhauch des Meeres, den der Zwin mit sich brachte, durch die Fenster. Bis auf die Schreie der Möwen und deren Getrappel auf den Dachschindeln, wenn sie mit ihren akrobatischen Flugkunststücken innehielten, vernahm sie kaum störende
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