Die Stunde des Venezianers
allen vier Seiten mit schlanken Bogenfenstern versehen, wirkte es ebenso luftig und elegant wie die Halle darunter düster und feierlich. Die Lichter des Festsaales erhellten die Nacht über Gent. Sie sah, dass die Herzogin mit einem Pagen sprach, um sie gleich darauf zu sich bitten zu lassen, ehe sie sich noch einen Platz an der Tafel suchen konnte.
»Ich wünsche, dass Ihr heute in unserer unmittelbaren Nähe speist, liebe Aimée. Herr Cornelis wird das Essbrett mit Euch teilen.«
Eine ungewöhnliche Ehre wurde Aimée mit diesem Wunsch zuteil. Sie bemerkte es auch an dem kurzen Anflug von Verblüffung auf den Zügen des Herzogs. Weshalb seine Frau den Handelsmann so bevorzugte, schien ihm nicht klar zu sein.
Herzogin Margarete lächelte, während der Page Aimée und Ruben zu den beiden Plätzen an der Tafel führte, die direkt an den Tisch des Herzogs und der Ehrengäste anschlossen. Der fürstliche Mundschenk füllte Aimées und Rubens Pokale mit dem Wein, den auch der Herzog trank.
Ruben fand eine Erklärung dafür.
»Ihr habt mit dem Herzog gesprochen, nicht wahr? Ist er mit meinem Plan einverstanden?«
»Ihr seid zu hastig, ich …«
»Ich bin Euch unendlich dankbar, Aimée.«
Ihr Protest erstarb in seinem unwiderstehlichen Lächeln. Sie konnte es einfach nur erwidern.
»Welch ein schönes Paar.« Die Herzogin wies mit einer Bewegung des Kopfes auf Aimée und Ruben.
»Gedenkt Ihr, eine Ehe zu stiften?« Der Herzog gab sich leutselig. »Aimée von Andrieu ist von edelstem burgundischem Blut. Sie mit einem Händler zu verheiraten würde ihre Familie kränken.«
»Welch kurzsichtiger Hochmut. Die Flamen haben vor einem erfolgreichen Handelsmann ebenso viel, wenn nicht gar mehr Respekt als vor einem Edelmann«, erwiderte die Herzogin. »Wenn Ihr nach dem Tod meines Vaters in Flandern regieren wollt, müsst Ihr Euch schon heute Verbündete suchen. Mächtige Männer, die Eure Interessen vertreten und auf die Ihr Euch verlassen könnt. Brügge ist die Hauptstadt von Flandern, auch wenn die Genter es gerne anders hätten. Eine Verbindung Aimées mit dem Handelsmann wäre sicher hilfreich.«
»Ihr seid eine kluge Ratgeberin.« Ihre Worte waren auf fruchtbaren Boden gefallen. »Ich könnte Cornelis um einen weiteren Kredit angehen, wenn ich ihm eine solche Partie verschaffe. Er ist von all diesen Brügger Geldsäcken der umgänglichste und müsste sich dann erkenntlich zeigen.«
Die Herzogin schwieg. Neben all seinen schöngeistigen Interessen und seinem Hang zum Vergnügen war Philipp auch ein kühl kalkulierender Machtmensch. Selbst wenn er durchschaute, dass sie ihre Hofdame Aimée in erster Linie aus Eifersucht aus seiner Nähe entfernen wollte, so verschloss er sich doch ihren Argumenten nicht, wenn sie einen Vorteil versprachen.
Ohne zu wissen, dass über ihren Kopf hinweg ihre Zukunft entschieden werden sollte, fand Aimée zunehmend Gefallen an dem Festmahl und an der Unterhaltung mit Ruben. Der schwere Wein hatte einen nicht geringen Anteil daran, dass sie sich so leicht und fröhlich fühlte. Sie war es nicht gewohnt, solche Mengen unverdünnten Weins zu trinken. Ihre Stimmung wurde immer ausgelassener. Unterbrochen wurde sie erst, als der Page des Herzogs nach dem Bankett an ihren Tisch trat.
»Der Herzog bittet Euch morgen zur Stunde der Vesper zur Audienz, Herr Cornelis«, richtete er seine Botschaft aus und verschwand auf der Stelle wieder.
Ruben nahm Aimées Hand und küsste sie leidenschaftlich. »Er bittet mich zur Audienz. Ich wusste, dass Ihr ihn überzeugen würdet, Aimée. Ihr seid wundervoll.«
»Ich bin nicht wundervoll, mir ist übel«, klagte Aimée. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie hatte das sichere Gefühl, dass sie Ruben etwas sagen musste, aber sie wusste nicht mehr, was.
4. Kapitel
B RÜGGE , T UCHHALLE , 28. JUNI 1369
»Auf ein Wort, de Fine!«
Colard trat aus der Tuchhalle unter dem Belfried, als ihn der Ruf erreichte. Er wandte sich um und entdeckte Anselm Korte. Auch das noch. Hatte Korte davon gehört, dass ihn der Zunftmeister der Tuchhändler zu einem Gespräch geladen hatte? Gerüchte durcheilten Brügge schneller als die Kuriere des Grafen von Flandern. Es war zwar das gute Recht der Medici-Bank, den Zunftoberen als Schlichter im Streit um offene Wechsel anzugehen, aber es zog mehr Aufmerksamkeit auf das Haus Cornelis, als Colard lieb sein konnte.
»Seid mir gegrüßt, mein Freund«, schnaufte der ältere Kaufmann und hüllte Colard in die Dunstwolke des
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