Die Stunde des Venezianers
Früher wurden im Hause Cornelis große Feste gefeiert, und die ersten Familien der Stadt gingen hier ein und aus.«
»Dann muss es auch silbernes Tafelgeschirr geben«, rief Aimée begeistert. »Das habe ich noch gar nicht gefunden. Wisst Ihr, wo es aufbewahrt wird?«
»Ich habe bei Gott Wichtigeres zu tun, als mich um Tafelgeschirr zu kümmern«, brauste Colard auf. »Wollt Ihr etwa Euer Erbe zu Geld machen?«
»Genau das will ich«, bestätigte Aimée zufrieden. »Seht Ihr nicht, dass wir uns damit aller Sorgen entledigen können? Wäre ich doch nur früher darauf gekommen, vielleicht hätte ich Ruben damit von seiner verhängnisvollen Reise abhalten können.«
Trauer und Selbstvorwürfe geben ihr solche Ideen ein, ging es Colard durch den Kopf. Oder was war es sonst, das sie etwas so Demütigendes planen ließ. Er musste eine Möglichkeit finden, sie davon abzubringen.
»Aimée, wir können unmöglich unseren Hausstand in Brügge verkaufen. Zum einen ist es ungehörig, und zum anderen brächte es Tante Sophia den Tod.«
»Macht Euch keine Gedanken um sie. Ich habe mit ihr gesprochen. Sie sieht ein, dass es keinen anderen Weg für uns gibt. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob sie mich klar verstanden hat, aber sie hat immerhin keinen Einspruch erhoben.«
»Sie ist nicht mehr sie selbst«, murmelte Colard.
»Wir haben uns alle verändert«, stellte Aimée nüchtern fest.
Er sah einen strengen Zug um ihren Mund und musste ihr recht geben. Auch sie war nicht mehr die ahnungslose Braut, die nach Brügge gekommen war. So resolut, wie sie vor ihm stand, war sie inzwischen eine Frau, die wusste, was sie tat. Die Selbstsicherheit, die sie dabei ausstrahlte, verlieh ihr einen verführerischen Reiz, musste Colard sich eingestehen. Eine Schmutzspur an der Wange gab ihrem Aussehen etwas erfrischend Natürliches. Er war immer wieder hin- und hergerissen in seinen Gefühlen für sie. »Ich habe bereits einen Kunden in Dijon, Colard. Ihr könnt es nicht mehr aufhalten. Er will mir all dies abkaufen. Er sucht darüber hinaus seltene Preziosen und ist bereit, einen sehr guten Preis dafür zu bezahlen. Einen sehr hohen.«
»Und wer ist dieser Verrückte?«
»Kein er, es ist die Herzogin von Burgund.«
Sie hatte es so leise gesagt, dass ihn die Worte nur mit Verzögerung erreichten.
»Margarete von Flandern?«, fragte er, weil er sich verhört zu haben glaubte.
»Die Herzogin von Burgund«, bestätigte Aimée gelassen. »Nun kommt schon, Colard. Schaut nicht so finster. Sie sucht, was wir im Überfluss besitzen, für die neuen Räume der herzoglichen Residenz in Dijon. Ihre Wünsche werden das Haus Cornelis retten. Allein diese Enzyklopädie ist ein Vermögen wert. Der Herzog ist ein leidenschaftlicher Sammler schöner Bücher, das weiß jedermann.«
Schlagartig ging ihm auf, welch genialen Gedanken Aimée da verfolgte. Sie verwandelte totes Kapital in liquide Mittel. Trotzdem versuchte er, noch etwas Widerstand zu leist e n. Er wollte sie unbedingt davon abbringen, die Schmutzarbeit zu machen.
»Wer soll sie sonst tun? Wer kann lesen und die wichtigen Bücher von den unwichtigen unterscheiden? Wer weiß, ob ein Weinbecher Tand oder ein Juwel ist? Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir die Hände schmutzig mache. Helft mir lieber. Diese Truhe dort an der Wand konnte ich nicht öffnen.«
Colard kapitulierte ebenso wie offensichtlich schon zuvor seine Tante.
Tage später hatte Aimée in einem trockenen Lagergewölbe mit seiner Hilfe zusammengetragen, was ihr geeignet erschien. Sie fertigte eine Liste mit ausführlichen Beschreibungen der einzelnen Gegenstände an.
»Das einzige Problem sind die Preise«, erklärte sie, als sie ihn damit im Kontor aufsuchte. »Sie müssen dem wahren Wert der Dinge entsprechen, aber auch einen gewissen Spielraum zum Handeln lassen. Das Gefühl, einen günstigeren Preis aushandeln zu können, macht einen Kauf erstrebenswerter.«
»Wer sagt Euch eigentlich, dass die Herzogin überhaupt bezahlt?«, warf Colard ein und ärgerte sich, dass er dieses Argument bisher nicht in die Waagschale geworfen hatte. »Die Herrschaften mögen noch so reich sein, die Kosten ihrer Verschwendungssucht übersteigen stets ihre Einnahmen. Erinnert Euch an die Hochzeit in Gent.«
Er sah Aimée an, während sie den Raum durchmaß und den Ring ihrer Großmutter an der Hand drehte. Colard waren die raumdurchschreitenden Wanderungen inzwischen vertraut, ebenso ihr Spiel mit dem Ring. Aimée sammelte dabei
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