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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cristen Marie
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größerem Wert war, ist mit der Koralle untergegangen. Die Rohwolle-Lieferungen aus England stagnieren, weil wir die Ware nicht mehr im Voraus bezahlen können, wie es gewünscht wird. Unsere Weber und Färber haben keine Arbeit mehr, deswegen halten sie Ausschau nach anderen Auftraggebern. Lieferanten in Mailand, Köln und andern Städten mahnen ausstehende Rechnungen an. Der bevorstehende Winter sollte dazu dienen, die Lieferungen der Flanderngaleeren zu verkaufen, neue Kontakte zu knüpfen, die Bestellungen für das kommende Frühjahr aufzulisten sowie neue Kunden zu finden. All dies fällt für uns aus. Wir besitzen nichts von Wert, das den Verkauf lohnt.«
    Aimée schluckte. Aber Colard war keineswegs am Ende.
    »Ruben hat Schuldscheine unterschrieben. Mehrere. Ihre Gesamtsumme ist höher als der übliche Reingewinn zweier guter Geschäftsjahre. Lediglich meine Maklertätigkeit für die venezianischen Kaufleute bewahrt uns vor dem endgültigen Aus.«
    Aimée versuchte einen klaren Kopf zu bewahren. Sie krauste die Nase. »Wer besitzt diese Schuldscheine mit Rubens Unterschrift?«
    »Mittlerweile sind alle in einer Hand.«
    Aimée beschlich ein Verdacht. »Sag jetzt bitte nicht, in Domenico Contarinis Hand?«
    Colard nickte.
    »In seiner und in der seines jüdischen Stellvertreters Abraham ben Salomon. Ich habe es auch erst vor kurzem von ihm selbst erfahren. Er versicherte jedoch, dass er nicht die Absicht habe, sie zu präsentieren.«
    »Im Augenblick vielleicht nicht«, entgegnete Aimée und dachte an die Dankbarkeit, die der Bankier ihrem Onkel gegenüber empfand. Wie lange würde sie ihn wohl davon abhalten? »Aber für kommende Zeiten möchte ich mich darauf nicht verlassen. Contarini ist ein Lombarde. Geld ist sein Geschäft, und Zinsen sind sein Gewinn. Das Ganze gefällt mir nicht. Seit wann sind wir ihm so weitgehend verpflichtet?«
    »Ruben hat Contarini schon ein Jahr vor seiner Reise nach Gent um eine erste Anleihe gebeten. Seine Zinsen sind günstig.«
    »Wenn er sich von Ruben überzeugen ließ, Geld in das Haus Cornelis zu stecken, muss es einen triftigeren Grund gegeben haben als Rubens Überredungskunst. Und wenn er zudem die sonstigen umlaufenden Schuldscheine übernommen hat, muss er einen Plan haben. Steht ihm am Ende der Sinn nach unserem Handelshaus?«
    »Das ist unmöglich. Er ist Ausländer. Um in Brügge ein selbständiges Handelshaus führen zu können, müsste er Bürger unserer Stadt sein. Es gibt nur drei Möglichkeiten, dies zu erreichen. Geburt, Heirat oder ein Beschluss des städtischen Magistrats. Geburt scheidet aus. Heirat? Man hat nichts dergleichen gehört, und wäre er beim Magistratsrat in Sachen Bürgerrecht vorstellig geworden, hätte sich auch das in Brügge schon längst herumgesprochen.«
    Aimée war anderer Meinung, aber sie behielt es für sich. »Tatsache ist, wir müssen danach trachten, seinen Einfluss auf unsere Geschäfte zu mindern. Habt Ihr Euch schon Gedanken darüber gemacht, wie unsere Zukunft aussehen kann?«
    Verblüfft von der unerwarteten Frage wiederholte Colard: »Unsere Zukunft?« Seine Gedanken überschlugen sich und landeten auf falschen Wegen. »Es ist noch zu wenig Zeit verstrichen. Ruben ist schließlich erst wenige Wochen tot.«
    Aimée blickte ihn direkt an und unterdrückte ein seltsames Unbehagen. Sie wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. Es widerstrebte ihr, eine Trauer um Ruben zu zeigen, die sie im Grunde ihres Herzens nicht in solcher Tiefe empfand. Aber Ruben trug ein hohes Maß an Schuld an ihrer verzweifelten Lage. Aus diesem Grund war es sicher nicht unehrenhaft, hinter der Trauer Schutz zu suchen. »Hört mir zu. Ich trauere sehr wohl um Ruben und mein Kind. Als ich ihm in Gent meine Hand gab, geschah das nicht auf Befehl des Herzogs, sondern weil es mein Wille war. Ich wollte Rubens Frau werden und kein unnützes Leben am Hof führen. Ich war jung und ahnungslos und fühlte mich hingezogen zu ihm. Ich liebte seinen Charme, seine Offenheit, sein Draufgängertum. Ich werde ihn immer so in Erinnerung behalten, wie er damals war, und das wird mir helfen, auch künftig meine Pflicht zu tun.«
    Sie hatte mit keiner Silbe gelogen und doch Colards Mitgefühl angesprochen. Er empfand sogar Bewunderung für sie. Aber da waren auch seine Überzeugung, dass er der Mann sei, der es ohne ihre Hilfe schaffen würde; sein Ehrgeiz, das zu beweisen; sein Stolz, der sich dagegen wehrte, sich in die Abhängigkeit von einer Frau zu begeben; sein

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