Die Stunde des Venezianers
Stadtwache! Lauft!«
Aus dem Aufruhr wurde schlagartig kopflose Flucht. Die Stadtwache und die Männer des Grafen von Flandern fackelten nicht lange, wenn es galt, Unruhestifter zum Schweigen zu bringen. Aimée und Lison hatten Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Ein unüberwindbares Hindernis, das mitten in der Gasse stand, hielt den fliehenden Mob auf. Ein Ziegelfuhrwerk, beladen mit gebrannten Backsteinen für die Kathedrale von Sankt Salvator, ließ zu beiden Seiten nur einen schmalen Durchgang.
Blitzartig erfasste Aimée die Vorteile des Fuhrwerks. Sie zog Lison in eine Lücke neben der Deichsel, hinter dem unruhigen Ochsengespann. Zwei Fuhrknechte hatten alle Hände voll zu tun, die Tiere im Zaum zu halten, denen sie geistesgegenwärtig Säcke über die Köpfe gestülpt hatten.
»Halt dich an der Wagenkante fest und pass auf!«, schrie sie Lison ins Ohr und presste sich eng gegen das Gefährt.
Die Stadtwache achtete weder auf sie noch auf das Fuhrwerk. Die Bewaffneten folgten den Flüchtenden die Gasse entlang, und wenig später fanden sich Aimée, Lison und die Fuhrknechte allein mit einer Handvoll Menschen, die im Aufruhr niedergestoßen und verletzt worden waren.
»Heilige Mutter Gottes«, jammerte Lison. »Ich dachte, mein letztes Stündlein hat geschlagen. Was war das?«
Aimée richtete ihre Kleidung. Den Riss an ihrem Ärmel übersah sie. Sie hatte den Korb mit den Opferkerzen eingebüßt, aber bis auf ein paar blaue Flecken waren sie unversehrt geblieben. Lediglich das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Ich nehme an, das ist der Grund dafür, weshalb der Graf von Flandern lieber auf der befestigten Burg von Male lebt als mitten in Brügge«, wandte sie sich Lison zu.
»Ihr seid eine kluge Frau.« Der Anstifter des Aufruhrs hatte sich auf der anderen Seite der Deichsel in Sicherheit gebracht und tippte nun mit der Hand respektvoll an seine Kappe. »Wenn ich Euch trotzdem einen Rat geben darf, dann seht zu, dass Ihr fortkommt, ehe die Wachen wieder auftauchen.«
»Und wer hilft den Verletzten hier?«
»Sie helfen sich selber.«
Aimée sah über den Ziegelaufbau hinweg, dass er recht hatte. Humpelnd und einander stützend suchten sie das Weite. Ihre Augen kehrten zu dem Färber mit seinen blauen, rissigen Händen zurück. Fraglos ein Mann, der nicht aus einem spontanen Impuls heraus gehandelt hatte, sondern aus tiefsitzender Verbitterung.
»Was treibt Euch dazu, Aufruhr zu predigen?«, erkundigte sie sich. »Habt Ihr keine Arbeit?«
»In dieser Stadt fehlt es nicht an Arbeit, sondern an Gerechtigkeit!«, gab er zornig zurück. »Die Reichen werden immer fetter und die Armen immer hungriger.«
Er wandte sich ab, klopfte den beiden Fuhrknechten auf die Schultern und verschwand so eilig zwischen zwei Häusern, dass Aimée ihm nicht antworten konnte. Sie befolgte jedoch seinen Rat und zog Lison mit sich fort. Am Ende der Gasse wandte sie sich noch einmal um und sah dem ratternden Ziegelfuhrwerk nach, das seinen Weg zur Bauhütte der Kirche fortsetzte.
Sie nahm Lison das Versprechen ab, den Vorfall für sich zu behalten, aber die Mühe hätte sie sich sparen können. Colard trat aus dem Haus, als sie durch das Tor kamen. Ein Blick auf ihre schmutzigen Röcke, den eingerissenen Ärmel und Lisons verstörte Miene genügte, um Fragen zu stellen.
Aimée versuchte die Ereignisse herunterzuspielen, aber Colard hatte schon von dem Krawall an der Salvatorkirche gehört.
»Die kurzsichtige Politik des Grafen gegen die großen Städte Flanderns führt immer wieder zu Unruhen. Er hat die Bauern dazu ermuntert, Webstühle aufzustellen. Das trägt ihm zwar Steuern ein, aber auch den Zorn der städtischen Weber und Färber. Sie fürchten um ihre Arbeitsplätze und ihr Einkommen. Brügger Tuch darf nur heißen, was in Brügge produziert wird. Wenn jedoch billigere Ware den Markt überschwemmt, brechen die Preise ein, und die Folgen sind für uns alle verheerend. Ich fürchte, dass uns ein unruhiger Winter bevorsteht, wenn jetzt schon gehetzt wird.«
Aimée rieb gedankenverloren über einen Schmutzfleck auf ihrem Handrücken. Es war roter Ziegelstaub.
»Warum musstet Ihr Euch in diesen Tumult begeben, Aimée?«
»Uns ist nichts passiert«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Im Gegenteil, ich glaube, ich muss diesem Färber dankbar sein. Er hat mich auf eine Idee gebracht. Lasst uns im Kontor darüber sprechen.«
»Wollt Ihr nicht erst saubere Klei…«
Aimée ging zügigen Schrittes an ihm vorbei. Sie entzog sich
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