Die Stunde des Venezianers
Residenz ebenso prächtig ausgestattet werden sollte, würden nur die ungewöhnlichsten und kostspieligsten Dinge dafür in Frage kommen. Ohne Rücksicht auf den Preis.
In Gent habe ich Euren sicheren Geschmack schätzen gelernt, liebe Aimée. Aus diesem Grunde seid Ihr mir eine Hilfe. Prüft das Angebot der Flanderngaleeren für mich und ersteht im Namen des Herzogs jene exklusiven Dinge, die Ihr für geeignet haltet, unsere Räume auszugestalten. Vergesst auch nicht die Tapisserien, die in Flandern mit solcher Kunstfertigkeit entworfen und gewebt werden.
Aimée ließ den Brief sinken, und ihr Blick fiel unwillkürlich auf einen jener Wandteppiche, die die Herzogin im Auge haben musste. Er zeigte eine anmutige Frühlingslandschaft und nahm eine ganze Seitenwand ihres Schlafraumes ein. Vor einer von Wäldern umgebenen Burg stand eine blonde Jungfrau, die einen Blütenkranz um den Kopf eines sagenhaften Einhornes wand. Zu Füßen des Mädchens und des Einhorns breitete sich eine Wiese voller Margeriten aus.
Sie wusste, dass die Herzogin eine fast schon wunderliche Vorliebe für ihre Namensblume hegte. Jedes ihrer prächtigen Gewänder trug versteckt oder offen eine entsprechende Verzierung. Eine Borte am Saum, eine Stickerei am Ausschnitt, eine Schließe in Blumenform. Nur ihre Unterkleider machten eine Ausnahme. Sie waren geziert mit fein gestickten Weißdornblättern.
Aimée vergaß weiterzulesen. Der Brief der Herzogin war für sie mehr als eine Ehre oder eine freundschaftliche Geste. Er setzte eine wahre Lawine von Plänen in ihrem Kopf in Gang.
25. Kapitel
B RÜGGE , 22. S EPTEMBER 1369
»Was hast du hier zu suchen? Raus mir dir, aber schnell!«
Der Raum, den der alte Piet Cornelis mit seiner letzten Frau bewohnt hatte, war für das Gesinde tabu. Seine Tante hütete ihn wie eine Hauskapelle. Niemand außer ihr durfte ihn betreten. Abgedeckte Möbel, Spinnweben und eine kräftige Schicht Staub verrieten, dass er schon gar nicht mehr gereinigt wurde.
Die Tür zu dem Heiligtum stand offen, und Colard sah ein Mädchen in einer Truhe wühlen.
»Nicht so voreilig«, antwortete Aimée.
Angetan mit dem grauen Kittel einer Magd, einer Arbeitsschürze, einem Kopftuch, drehte sie sich zu ihm um. In den Händen hielt sie einen großen, in Leder gebundenen Folianten. Sie legte ihn auf dem Sims des ungeheizten Kamins neben der Truhe ab. Colard sah dort bereits andere Bücher liegen.
»Ist das nicht fabelhaft?«
Colard hatte Aimée seit langem nicht mehr so strahlen sehen. Konsterniert fragte er sich, was in sie gefahren sein mochte.
»Mein Gott, was tut Ihr denn hier?«
»Schätze suchen«, antwortete sie zufrieden. »Seht nur, was ich gefunden habe. Le Livre des Propridu's des Choses . Barthelemy l'Anglais hat diese Enzyklopädie der Natur im vergangenen Jahrhundert verfasst. Es ist immer noch das umfassendste Werk, das es zu diesem Thema gibt. Dieses Exemplar ist auch noch in feinster Zierschrift geschrieben.«
Sie wandte sich wieder der Truhe zu, und Colard konnte sie im letzten Moment davon abhalten, erneut in ihre Tiefen zu tauchen.
»Schätze suchen«, wiederholte er fragend. »Erklärt mir, was das heißen soll. Warum interessieren Euch ausgerechnet diese Bücher?«
»Es sind noch viel mehr davon vorhanden. Seht selbst. Ein herrlicher Titus Livius mit goldenen Lettern, und dann erst diese vielen Bände Aristoteles. Wer hätte gedacht, dass Piet Cornelis solch kostbare griechische Abhandlungen in seinem Besitz hatte.«
»Ich weiß aus Erzählungen nur, dass er eine Vorliebe für schöne Dinge hatte.«
»Und wohl für besonders wertvolle Bücher. Ein weiser Mann«, nickte Aimée. »Wir können ihm nicht dankbar genug dafür sein. Er hat vorausschauend gehandelt. Wollt Ihr mir mit diesen Büchern nicht helfen? Sie sind schwer.«
»Was habt Ihr damit vor?«
»Ich werde sie verkaufen.«
In ihren Augen stand ein triumphierendes Blitzen.
»Seht mich nicht an, als wäre ich närrisch geworden«, las sie seine Gedanken. »Schaut Euch um. Allein dieses Zimmer ist eine Schatzkammer. Bücher, Pokale, Wandbehänge, Heiligenstatuen, ein Salzfass, das mit der Figur einer Sire ne verziert ist. Und vieles mehr. Wir brauchen die Flanderngaleeren nicht. Wir leben in einem Warenlager voller Kostbarkeiten.«
»Aimée, ich bitte Euch, kommt zur Vernunft.« Colard suchte nach Worten, sie zu überzeugen. »Ihr könnt diese Sachen in Brügge nicht verkaufen. Wir würden uns bloßstellen. Zu viele von ihnen sind bekannt.
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