Die Stunde des Venezianers
Probleme. Nur die Tatsache, dass er gottlob ihre mehr oder weniger heftige Trauer um Ruben respektierte, hielt ihn zurück, sich zu offenbaren.
Doch gleichgültig, wie vernünftig und sinnvoll eine Verbindung mit ihr in Colards Augen auch war, die Ehe mit Ruben, geschlossen aus einer Mischung aus Sehnsucht nach einem anderen Leben, romantischem Rausch und e hrgeiziger Vasallentreue zum Herzog, war nicht so gewesen, dass sie sich nach einer erneuten Ehe sehnte. Sie hatte auch nicht das Bedürfnis, sich wieder der Befehlsgewalt eines Ehemannes auszusetzen. Sie musste mit Colard auskommen. Er war für das Haus Cornelis wichtig, er war dem Haus verbunden. Sie würde ihm das immer danken.
Was aber sollte sie von Domenico Contarini halten?
Sein Verhalten deutete nicht darauf hin, dass es ihm darum ging, ihre Zuneigung zu gewinnen. Er hatte sie auf offenem Weg angesprochen, um ihren Onkel wiederzutreffen. Er hatte Onkel Jean-Paul ein Versprechen gegeben, zu dem er sich aus Dank verpflichtet fühlen musste. Er nahm auf dieser Reise Kälte, Anstrengung und Unbequemlichkeiten auf sich, um dieses Versprechen einzuhalten.
Es beunruhigte sie plötzlich, dass sie überhaupt in Erwägung zog, Contarini könne Zuneigung für sie empfinden. Sie hatte gerade erst begonnen, ihrem Leben ein Ziel zu geben. Seine Hilfe war ihr dabei schon mehrmals zugutegekommen. Warum half er ihr? Es konnte viele Motive für seine Hilfsbereitschaft geben. Sie konnte nicht ergründen, was hinter seiner Stirn vorging. Er übte eine Faszination auf sie aus, gegen die sie glaubte sich sperren zu müssen.
Als im blassen Licht eines windigen Novembertages endlich die Umrisse ihres Zieles am Horizont auftauchten, konnte Aimée ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken. Das Sendschreiben der Herzogin hielt die Stadtwache davon ab, die Fuhrwerke genauer zu prüfen, so dass sie ohne Verzögerung durch eines der elf Tore von Dijon rattern konnten.
In der Rue de Forges leitete Contarini die Fuhrwerke in den Innenhof eines riesigen dreistöckigen Stadthauses. Umlaufende Holzarkaden und ein offener Treppenturm ließen auf den Reichtum seines Besitzers schließen. Der Hausherr, ein rotgesichtiger Dijoneser Bürger, dessen Hängebacken und Doppelkinn bei jedem Schritt wabbelten, hastete auf Colard zu und schloss ihn wie einen vermissten Bruder in die Arme, kaum dass er vom Pferd gestiegen war.
Aimée wusste, dass Maître Ballain ein wohlhabender Gewürzhändler war, der seit vielen Jahren enge Geschäftsbeziehungen zum Hause Cornelis unterhielt. Im Schutz seiner Gastfreundschaft wollte Colard Ziegelsteine von Kunstwerken trennen. Aimée sollte sich unter seinem Dach wieder in eine Dame verwandeln.
»Erlaubt, dass wir die ausführliche Vorstellung auf später verschieben«, vernahm sie Colards diplomatische Bitte. »Der eisige Wind ist uns allen in die Knochen gefahren. Wir sehnen uns nach einem Dach über dem Kopf und einem wärmenden Feuer.«
Aimée beanspruchte keine Hilfe, um aus dem Sattel zu kommen. Die mühsame Reise hatte ihr die Behendigkeit des Mädchens zurückgegeben, das in Andrieu mit seinen Vettern auf Bäume und über Mauern geklettert war. Sie hüllte sich in ihren langen weiten Umhang, um zu verbergen, dass sie Männerkleider trug. Als sie abgestiegen war, stand Contarini vor ihr.
»Wir haben es geschafft«, machte sie sich Luft.
»Ihr habt es geschafft«, korrigierte er.
» Mit Eurer Hilfe.«
Sie erhielt keine Antwort. Colard winkte ihr vom Eingang d e s Hauses. Im Hintergrund schlossen die Knechte das große Tor und legten einen Querbalken vor, der die Flügel von innen blockierte.
»Kommt mit ins Haus«, forderte Aimée unbefangen und freudestrahlend Contarini auf. »Legt mit mir Eure Verkleidung ab. Wir sind in Sicherheit. Ihr müsst Euch, wie ich, nach einer warmen Mahlzeit und frischen Kleidern sehnen!«
Sie suchte in seinen Augen vergeblich die Freude, die sie empfand, als sie ihn dabei anlächelte.
»Geht nur und lasst de Fine nicht warten«, sagte er ruhig. »Ihr braucht mich fürs Erste nicht mehr. Schickt mir eine Nachricht, wenn Ihr mit der Herzogin einig seid. Euer Vetter weiß, wo er mich findet.«
Aimées Lächeln erstarb. Gekränkt sah sie ihn an. Seinen Blick konnte sie nicht deuten.
»Sie warten auf Euch«, wiederholte er sich.
»Ich danke Euch. Ihr wisst nicht, wie sehr.«
Sie wandte sich ab und suchte die schützende Wärme des Hauses. Contarinis zurückhaltende Aufnahme ihres herzlichen Dankes machte es ihr
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