Die Stunde des Venezianers
Erbe in Ehren«, erwiderte Contarini, »aber irgendwann werdet Ihr sicher wieder einen Mann finden müssen, der Euch aus dem Schatten von Ruben Cornelis herausführt.«
»Ich fühle mich wohl in seinem Schatten. Gestattet mir vielmehr, dass ich Euch eine Frage stelle.«
Aimée löste den Griff um den Diamantring ihrer Großmutter.
»Colard rät mir dazu, die Ochsen und die Gespanne in Dijon zu verkaufen. Seid Ihr auch dieser Ansicht?«
»Ihr etwa nicht?«
»Nein. Wir könnten auf dem Rückweg Waren nach Brügge bringen. Selbst wenn wir warten müssen, bis die Straßen passierbar sind, ist es das bessere Geschäft.«
»Es klingt, als hättet Ihr konkrete Pläne.«
Aimée nickte energisch.
»Ich habe mich dieser Tage eingehend mit unserem Gastgeber, Maître Ballain, unterhalten. Wusstet Ihr, dass Safran das mit Abstand teuerste Gewürz ist? Safran kostet elfmal mehr als Pfeffer. Außerdem ist er vielseitig verwendbar. Er wird nicht allein zum Würzen von Speisen gebraucht, sondern auch zum Färben von Stoffen und für die Herstellung bestimmter Heilmittel.«
»Ihr wollt unter die Gewürzhändler gehen?«
»Ich will weder mit Massenware wie Getreide, Holz oder Rohstoffen handeln, noch will ich mich mit den Problemen der Tuchherstellung und des Tuchhandels beschäftigen müssen. Das überlasse ich denen, die es schon immer getan haben. Ich will neue Wege gehen. Seht Euch um in Brügge und Gent. Bei aller Rivalität haben die führenden Bürger dieser Städte eines gemeinsam: ihren Reichtum. Wer reich ist, will diesen Wohlstand zeigen, egal ob Patrizier oder Fürst. Das Haus Cornelis könnte alles dafür anbieten. Kunstwerke, Tapisserien, ausgefallene Gewürze, orientalische Düfte, die neuesten modischen Torheiten, kunstvolle Schriften und vieles mehr.«
»Das alles habt Ihr bereits beschlossen?«
»Ich hatte genug Zeit, alles zu überlegen. Maître Ballain ist bereit, mir eine Lieferung erstklassigen Safrans zu günstigen Preisen zu überlassen. Er kommt nicht aus Konstantinopel wie üblich, sondern aus L'Aquila in den Abruzzen. Das mindert die Transportkosten, und die Qualität ist hervorragend. Ich habe mich selbst davon überzeugt. Zudem bietet er mir Aloe und Rhabarber aus China an. Beides wird von Apothekern gesucht und gut bezahlt. Allerdings gibt es da noch ein Problem …«
Contarini hatte Mühe, nicht zu lächeln. Ihr Mut und ihr Einfallsreichtum waren ebenso bewundernswert wie ihre Tatkraft.
»Sprecht«, sagte er ruhig.
»Die Schuldscheine, die Ihr entgegengenommen habt für uns – wäret Ihr damit einverstanden, wenn ich nur die Hälfte der Summe bezahle und den anderen Teil im kommenden Herbst, nach der Landung der Flanderngaleeren? Ich wäre bereit, bis dahin Zinsen zu entrichten, wenn Ihr mir entgegenkommt.«
»Wie wollt Ihr auch noch Zinsen erwirtschaften?«
»Ich werde ausreichende Gewinne machen, dessen bin ich mir sicher.«
Contarini schüttelte den Kopf. So verlockend es war, ihr Mienenspiel und ihre Gedanken zu verfolgen, er musste Vernunft walten lassen. Hochtrabende Träume waren weder für sie noch für ihn gut.
»Wir müssen das besprechen. Aber nicht hier. Erlaubt, dass ich Euch am Tag des heiligen Nikolaus in der Rue de Forges aufsuche. Ist Euch elf Uhr angenehm?«
»Warum so offiziell?«
»Es wäre gut, wenn auch Colard de Fine bei diesem Gespräch anwesend sein würde.«
»Was wollt Ihr mir sagen?«
»Dies ist nicht der richtige Ort dafür. Habt Geduld.«
Ein Page bewahrte ihn vor einer weiteren Diskussion. Das neue Wappen der Herzogin zierte sein Wams, und er bat Aimée an die Seite seiner Herrin.
Contarini mied Aimées Blick und fixierte stattdessen die Schrägbalken von Burgund, die sich mit den königlichen Lilien und dem Löwen von Flandern im Wappen auf dem Wams des Pagen vereinten.
Aimée blieb keine Wahl, sie musste folgen.
Contarini sah sie gehen und dachte darüber nach, dass er Ziele hatte, die er nicht aus den Augen verlieren durfte.
29. Kapitel
D IJON , 4. DEZEMBER 1369
Das Medaillon hatte die Größe und die Form einer Handfläche.
Ein kunstvolles Hochrelief, aus feinen Seiden- und Goldfäden dicht gestickt, bildete in schimmernden, seidigen Wölbungen einen verschlungenen Ornamentrahmen für eine ländliche Szene, die eine Hirtin darstellte, ein junges Lamm auf den Armen haltend. Zwei weitere Lämmer drängten sich zu ihren Füßen an sie.
»Man nennt diese Stickart Opus Anglicanum , und sie wird bedauerlicherweise nur von Seidenstickerinnen
Weitere Kostenlose Bücher