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Die Stunde des Wolfs

Die Stunde des Wolfs

Titel: Die Stunde des Wolfs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Furst
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offen.
    Er stieß sie vollends auf und zählte bis zehn. Geh zum Pier zurück. Du willst nicht wirklich sehen, was du hier drinnen findest. Doch er konnte nicht anders. Er trat ein und befand sich in einem quadratischen Raum mit verputzten Wänden, die nach Moder rochen. Eine Strohmatratze mit einer Decke und eine Reihe Bücher am Fuß der Wand, von großen Steinen als Buchstützen zusammengehalten. An der Wand gegenüber ein grob gezimmerter Kiefernholztisch, eine umgefallene Laterne in einer Lache Paraffin, die in einen Stapel Papiere und einen halben Laib Brot gesickert war. Auf dem Boden noch ein paar Papiere.
    »Ist da jemand?«
    Er sagte es nur, damit es gesagt war, zuerst auf Deutsch, dann wieder auf Französisch, obwohl er wusste, dass es zwecklos war, obwohl er wusste, dass, wer auch immer hier gewesen war, nicht wiederkommen würde.
    Elend, erschüttert und erbost verließ er den Schuppen und ging. Vielleicht beobachtete ihn jemand, vielleicht auch nicht, es war ihm beinahe egal. Und er war, das wusste er jetzt, ein Narr, dass er nicht die Browning-Pistole mitgenommen hatte, die friedlich unter seinem Pullover lag, aber er hatte einfach nicht daran gedacht. Nun ja, das würde ihm nicht noch mal passieren – falls er diese Nacht überlebte, falls er je sein Schiff wiedersah und falls er jemals wieder in Versuchung geriet, es zu verlassen. Er lief im Eilschritt, doch als er den schmalen Durchgang erreichte, die Straße mit den geschlossenen Läden und schließlich den Pier, war es schon zehn. Als er sich dem Beiboot näherte, fragte Van Dyck: »Was ist passiert?«
    »Nicht da«, sagte De Haan. Er trat energisch ins Boot, wickelte das Tau von der Klampe und setzte sich in den Bug.
    Schweigend reichte ihm Van Dyck seine Mütze zurück und ging nach hinten, um den Motor zu starten, der in diesem Moment zu streiken beliebte. Sie fluchten beide, und Van Dyck fummelte am Choke herum, versuchte es dann erneut. »Wenn nötig, werden wir das gottverdammte Ding rudern«, sagte De Haan.
    »Keine Sorge, Herr Kaptän, er ist nur abgesoffen.«
    Das konnte De Haan selbst riechen, und er fand sich damit ab zu warten. »Wo kann sie denn sein?«, fragte Van Dyck.
    »Keine Ahnung. Vielleicht hat sie jemand geholt.«
    Van Dyck sagte nichts, doch sein Gesicht verschloss sich auf bestimmte Weise – die Welt war schlimmer geworden, als er es je für möglich gehalten hatte. Wieder probierte er es mit dem Motor, der ein paar Mal stotterte und dann mit einem Rülpser schwarzem Rauch zum Leben erwachte. »Schon besser«, lobte ihn Van Dyck und gab Gas. Er legte den Gang ein und fuhr in einer weit ausholenden Kehrtwende Richtung Bucht zurück.
    Sie waren ein, zwei Minuten draußen, als ein Auto die Straße vom Hafen herunterbrauste und mit quietschenden Reifen am Rand des Piers zum Stehen kam. »Mein Gott«, sagte De Haan. »Jetzt werden wir erschossen.«
    »Wie?«, fragte Van Dyck.
    De Haan kniete sich auf die Bodenplanken und gab Van Dyck zu verstehen, er solle das Gleiche tun. Doch die Schüsse blieben aus. Stattdessen sprangen ein Mann und eine Frau aus dem Wagen und rannten zum Ende des Piers. Der Mann war alt und konnte kaum rennen, auch wenn er sein Bestes tat, indem er mit den Armen winkte und etwas brüllte, das sie nicht hören konnten.
    »Herr Kaptän?«, fragte Van Dyck.
    »Fahren Sie besser zurück.«
    7. Juni 1941, 08.00 Uhr, 35° 50' N/6° 20' W, Kurs NW 275°. Nebel und schwerer Mitstrom aus SO. Hafen von Tanger um 03.40 Uhr verlassen, mit 41 Besatzungsmitgliedern an Bord. Zwei Schiffe mit Ostkurs gesichtet. Keine besonderen Vorkommnisse an Bord. E. M. de Haan, Kapitän.
    Nachdem er seinen Logbucheintrag erledigt und Ratter die Vormittagswache übernommen hatte, stand De Haan mit dem Ausguck auf der Nock, der seinerseits pflichtbewusst mit dem Fernglas in den grauen Nebel starrte, auch wenn dort kaum etwas zu erkennen war. De Haan fühlte sich an diesem Morgen sehr erleichtert – in See zurück, wo er hingehörte und sich mit dem Schlingern des Schiffes wiegen konnte, während er in die schäumende Bugwelle im grauen Atlantikwasser schaute. Er hatte nichts gegen den Nebel mit diesem eigenen, salzig nassen Geruch – Gottes eigene makellose Luft hier draußen in der Brise. Auf den Ozeandampfern konnte man sich darauf verlassen, dass die Passagiere ein paar Stunden vor dem Landgang den nächsten Steward fragten, was für ein unangenehmer Geruch das wohl sei, ein wenig faulig vielleicht, sowie die Temperaturen

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