Die Stunde des Wolfs
schlecht gewesen sein. Unten im hübscheren Teil des Hafengebiets, mit Blick übers Mittelmeer, sechs Stockwerke hoch – die Art Hotel, die Briten mit knapper Reisekasse bevorzugt haben mochten. Aber das war einmal. Eine Artilleriegranate war während des Kriegs in eine obere Ecke eingeschlagen, und so waren einige Fenster vernagelt, die Wand darüber von Rußspuren gezeichnet, und über dem ganzen Gebäude lag ein übler brandiger Geruch.
Egal, er würde nicht lange bleiben. In Stuttgart hatte er sich wieder Mr. Browns Aufsicht unterstellt und war zu dem Zeitpunkt verflucht dankbar dafür. Hatte ihm zweifellos die wertlose Haut gerettet. Es war nun einmal nicht zu leugnen, dass man, wenn man schon dieses geheime Leben führen musste, es besser im Rahmen eines geheimen Systems tat – auf diese Weise lebte man in der Regel länger, denn auf eigene Faust war man praktisch zum Scheitern verurteilt. Dennoch hatte er sich, als er vor diesem elenden Gemälde im Museum stand, versucht gefühlt, einfach zu verschwinden und ein neues Leben anzufangen. Nicht jetzt, hatte er sich gesagt, nicht mitten in einem Krieg, wo jeder auf der einen oder anderen Seite kämpfen musste. Aber später. Vielleicht.
Wie undankbar von ihm! Immerhin hatten sie sich größte Mühe gegeben, ihn zu schützen. Wie Großmutters wertvolle Porzellanschüssel, dieses hässliche Ding – man hasste es, aber man achtete sorgsam darauf, es nicht zu zerbrechen. Sie hatten ihn vorsichtig aus Strasbourg in die unbesetzte Zone von Vichy geschleust, anschließend abwechselnd in einem Krankenwagen, einem Laster, sogar einem Pferdekarren mit Gemüse ganz in den Süden von Frankreich geschmuggelt, wobei sie ihm auf dem letzten Abschnitt eine stinkende alte Baskenmütze über die Ohren gezogen hatten. Vornehm ging die Welt zu Grunde … Bei Arme-Leute-Essen obendrein, an die lokalen Gepflogenheiten angepasst. Einmal im Zug immerhin neben einem hübschen Mädchen. Und dann schließlich nach Port Bou – der Grenzstation in den Pyrenäen – in einem Leichenwagen. Als Gehilfe des Leichenbestatters, Gott sei Dank, denn der Sarg, den sie mit sich führten, war schwer und gediegen, mit schwarzem Satin ausgeschlagen und sah nicht so aus, als hätte er darin allzu viel Luft zum Atmen gehabt. Und wer wollte schon in einem Sarg sein Leben beschließen?
Natürlich ging es ihnen, wenn sie Zeit und Geld in ihn investierten, nicht darum, ihm das Leben zu retten, sondern es für ihre Arbeit aufs Spiel zu setzen. In diesem Sinne, dachte er, hatten sie etwas mit ihm vor.
In Lissabon offenbar. Am späten Nachmittag hatte er ihren kleinen Mann gesehen, vermutlich auf dem Weg vom Konsulat in Barcelona, das eine Stunde nördlich von Tarragona lag. Nun ja, er hatte ihn nicht wirklich gesehen – es war dunkel im Kino, auf dessen Leinwand ein spanischer Ritter vor dem Frühstück ein paar Sarazenen den Schädel einschlug –, vielmehr seine vertraute Präsenz wahrgenommen, ziemlich schwer, mit einem asthmatischen Keuchen, wohingegen er, achte Reihe von oben, einen Sitz vom Gang entfernt, nicht viel mehr als eine Warenlieferung war. Abgesehen von einem kurzen Protokoll – »Wissen Sie wohl, ob der Sitz hier noch frei ist?« – »Da saß eine alte Dame, aber sie ist gegangen« –, hatte er nur die erforderliche halbe Stunde neben ihm abgesessen, bevor er wieder verschwand und die Zeitung auf dem Sitz liegen ließ.
Hätte es ihn denn so viel gekostet, ein paar Worte hinzuzufügen? Ein geflüstertes Viel Glück oder etwas in der Art? Etwas Menschliches? Nein, der nicht, nicht einmal eine Bemerkung zu dem schwachsinnigen Film, nur das angestrengte Atmen und eine schwierige Zeitung mit handgeschriebenen Instruktionen auf der vorletzten Seite – so wie jedes Mal. Was auf den nächsten Nachtzug nach Lissabon hinauslief und dann zweifellos auf sein nächstes Hotel, aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwo in der Nähe der Docks. Die Docks, die Docks, immer wieder die Docks, wo es von Spionen wimmelte. Es gab ein paar Leute in seinem Beruf, das wusste er, die ganz und gar nicht so lebten – die erster Klasse fuhren und mit je einer Frau am Arm durch die Kasinos schlenderten –, doch ihm war das nicht ins Stammbuch geschrieben. Es lag ihm verflucht noch mal in den Genen: Er war der geborene kleine Angestellte, sah aus wie ein kleiner Angestellter, und sie hatten einen kleinen Angestellten aus ihm gemacht. Es war alles wie eine gewaltige, scheppernde Maschine, nicht wahr,
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