Die Stunde des Wolfs
den Schub des Bootes, um seitlich ans Dock zu gleiten. De Haan stand auf, wickelte ein Seil um die Klampe und band das Boot daran fest. Die Tage dieses Piers waren gezählt – die Planken waren verrottet und gerissen, eine Seite hing durch, der Eckpfosten war nirgends zu sehen.
»Ist es hier?«, fragte Van Dyck.
»Müsste es eigentlich sein.«
»Wollen Sie, dass ich mitkomme?«
»Nein, bleiben Sie beim Boot.«
»Das ist hier, glaube ich, sicher, Herr Kaptän.«
»Ich weiß, aber nicht nötig, dass wir beide gehen.«
Van Dyck hielt das Beiboot dicht an den Pier, und De Haan stieg aus. »Soll ich die hier behalten?«, fragte er und zeigte auf De Haans Kopf.
De Haan nahm seine Kapitänsmütze ab und warf sie dem Bootsmann zu. Der Recht hatte mit dieser Vorsichtsmaßnahme – bei Nacht allein auf den Docks, da war man besser gemeiner Matrose.
Am Ende des Piers warf eine einsame Laterne einen gelben Lichtkegel auf die Straße. De Haan blieb darunter stehen und las, während über ihm ein Schwarm Nachtfalter die nackte Birne attackierte, mühsam den Plan, steckte ihn dann wieder in die Tasche und lief eine stille Straße mit geschlossenen Läden entlang. Kein Licht, keine Radios, nur ein paar streunende Katzen. Die Straße endete unvermittelt vor einer hohen Mauer, doch die Karte wies ihn nach links, wo er zwischen der Mauer und dem letzten Gebäude eine schmale Gasse fand, eben breit genug, um hindurchzulaufen. Das Ende der Gasse wurde von der Dunkelheit verschluckt, und er zögerte einen Moment, bevor er weiterging, indem er sich mit der Hand an den Steinen entlangtastete. Am hinteren Ende führte ein ungepflasterter, von Gestrüpp gesäumter Pfad auf eine sandige offene Fläche, dann unter einem immensen Tank vorbei, der einmal als Ölbehälter gedient haben musste. Hier weitete sich der Pfad zu einer Schotterstraße und beschrieb eine scharfe Kurve in Richtung eines uralten Backsteinlagerhauses mit schwarzen, zerbrochenen Fensterscheiben.
Und ging endlos weiter, wie ihm schien. Er schritt voran, an verbretterten Eingängen und Laderampen vorbei, nunmehr eine andere Mauer zu seiner Rechten. In der Falle, dachte er. Vermutlich gab es eine Straße am anderen Ende des Gebäudes, die zur Bucht hinunterführte, doch er konnte keinerlei Anzeichen von Wasser erkennen, nur Nacht und, außer ein paar unermüdlichen Zikaden, Dunkelheit und Totenstille. Endlich erreichte er das Ende des Lagerhauses und fand eine Eisenbahnlinie mit unkrautüberwucherten Schwellen und einem schwachen Geruch nach Kreosot in der Luft. Wie früher. Als er zwölf Jahre alt war und mit seinen Freunden in Rotterdam unerschrocken zwischen rostenden Maschinen und schmalen Gassen streunte, die ins Leere führten. Er blieb einen Augenblick stehen, zog die Skizze aus der Tasche und zündete ein Streichholz an. Ja, diese sorgsam gezeichnete Leiter stand für einen Schienenstrang, mit kreuzschraffierten Linien dahinter, die drei Kanäle markierten. Wo waren sie?
Er erreichte den ersten nach wenigen Minuten. Tote Fische, totes Wasser, eine halb versunkene arabische Dhau am hinteren Ende. Noch ein Streichholz, noch ein Blick auf den Plan, und als er es gerade löschte, hörte er plötzlich eine Stimme oder glaubte, eine zu hören. Nur für einen Moment, eine hohe Stimme, ein, zwei Töne, wie Gesang. Doch während er versuchte, die Richtung zu bestimmen, aus der sie kam, verstummte sie, und es trat wieder Stille ein – vollkommene Stille, ohne die Zikaden.
Am Ende des Kanals fand er einen Seitenarm, einen zweiten Kanal, mit einem Schlackenpfad daneben und einer langen Reihe Schuppen, die in der Dunkelheit verschwand. Er musste zu dem vierten – auf ihrem Blatt mit einem X in einem Quadrat markiert. Er zählte bis vier und blieb vor einer schweren Holzjalousie stehen. Konnte jemand da drinnen sein? Er hörte nichts. Zögernd berührte er sie mit der Hand, bevor er klopfte. Die Jalousie bewegte sich. Er trat zurück und starrte auf den Laden. Auf der einen Seite des Rollos war ein Eisenring für ein Vorhängeschloss herausgebrochen, so dass das frische, aufgesplitterte Holz der drei Schraubenlöcher wie helle Punkte schimmerte, während das ungeöffnete Vorhängeschloss sich noch am Ring befand und nur verbogen war. Er klopfte erneut und wartete, nahm schließlich den Rollladen von unten in beide Hände und schob ihn hoch, um den Eingang frei zu legen.
»Hallo?«, flüsterte er zunächst, dann wiederholte er es laut.
Nichts, und die Tür
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