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Die Sturmjäger von Aradon - Feenlicht - Die Sturmjäger von Aradon - Feenlicht

Titel: Die Sturmjäger von Aradon - Feenlicht - Die Sturmjäger von Aradon - Feenlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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musste sie nicht. Nach neun Jahren hier oben hatten stürmische Winde die Angst längst davongeweht. Sie fühlte sich frei und sicher. Das lag auch an der hereinbrechenden Dunkelheit und der Tatsache, dass sie unbeobachtet war. In Momenten wie diesen wagte sie, die Augenklappe abzunehmen. Die Luft war eine weiche Berührung auf dem linken Augenlid, das sonst nie jemand anfasste und auch nie anfassen würde. Sogar sie selbst scheute davor zurück. Die Narbe an ihrer Schläfe, die unter den Haaren bis zum Hinterkopf reichte, war bleich und buckelig, aber nicht annähernd so abstoßend wie das Auge. Es war leicht in die Länge gezogen, und manchmal, wenn Hel doch versehentlich darüberstrich oder in einen Spiegel blickte, ohne die Binde zu tragen - was äußerst selten passierte -, kam es ihr vor, als sei das linke Auge größer als das gesunde. Als sei der milchweiße Ball in ihrem Kopf gewachsen und drücke gegen den Stoff, um ihre Aufmerksamkeit zu erzwingen. Sie blinzelte. Ihre Hände schlossen sich um den Korbrand, als die doppelte Sicht kam.
    Früher hatte sie die merkwürdige Überlagerung der zwei
Welten kaum ausgehalten, war gelegentlich umgekippt und hatte sich sogar übergeben müssen, vor allem am Anfang, als sie das Leben in der Höhe noch nicht gewohnt gewesen war. Selbst heute brachte sie die doppelte Sicht ein wenig aus dem Gleichgewicht. Deshalb machte sie die Augen meistens zu, wenn sie die Klappe mit der eingearbeiteten Silbermünze nicht trug, die die unheimliche zweite Sicht abschirmte.
    Denn sie war keineswegs blind auf dem Ding in ihrer linken Gesichtshälfte. Selbst mit geschlossenen Augen nicht.
    Sie konnte Leben sehen. Bei Nacht und Tag, Nebel und Sturm, durch Holz und Wände. Bis zum Horizont bot sich ihr die Welt in Lichtern dar und weihte sie in ihr pulsierendes Geheimnis ein. Sie sah, welche Berge tot waren und in welchem Gestein Lirium, die Essenz der Magie, glühend schwelte und auf einen Ausbruch wartete. Sie sah schwarz funkelnde Adern, die sich im Erdinneren durch Lehm und Granit schlängelten, und brodelnde Seen, die unter ausgedorrtem Flachland schäumten. Sie sah, wie Lirium perlmuttweißen Spinnweben gleich in Sträucher kroch und sie mit Magie nährte. Lange bevor eine Klippenwand sich auftat und Gräser, Steine, Tiere verschluckte, konnte Hel die Bewegung voraussagen.
    Ebenso sah sie den Tod des Lebendigen Landes. Das zähe Entrinnen der magischen Essenz war eine Alltäglichkeit geworden, denn Lirium wurde gejagt, gefangen und verbraucht. Bald würde nichts mehr da sein - vielleicht in zehn Jahren, vielleicht in zwanzig, wenn sie Glück hatten. Was dann geschah, wusste jeder, auch wenn niemand darüber sprach. Ohne Magie würden die Zivilisationen untergehen.
    Hel atmete tief durch und hatte das Gefühl, Staub in die Lunge zu bekommen. Wäre Lirium nicht so knapp geworden, hätte die Schwalbe nie so nah an die Kauenden Klippen
vordringen müssen. Doch weil die Quellen im Mittland erschöpft waren, musste die Liga der Sturmjäger ihr Jagdgebiet auf unwirtlichere Gegenden ausweiten. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich der wandelnden Gebirgskette zu nähern, die jeden verschlang, der sie durchqueren wollte. Denn hinter den Kauenden Klippen verbarg sich das Alte Reich.
    Ein feines Sirren erklang. Im nächsten Moment wehte Hel eine Sandwoge entgegen. Sie kniff die Augen zu. Die Körner trafen sie wie Nadeln, rieselten ihr durch die kinnlangen schwarzen Haare und in den Kragen ihrer Tunika. Einen Herzschlag später war alles vorbei. Das kam öfter vor, selbst in dieser Höhe. Auch ohne Augenklappe konnte Hel die Wogen nicht immer kommen sehen, denn der Sand war tot und leuchtete nicht.
    Mit geschlossenen Augen beobachtete sie ein Blitzen in der Ferne, kaum heller als ein Stern. Sie trat an den äußersten Rand des Mastkorbs. Tatsächlich … gegen Süden sickerte Licht aus dem Boden, so wie vor einem Liriumsturm. Doch in den südlichen Gebieten war schon lange keine Magie mehr. Oder? Lag dort eine einsame Liriumquelle im toten Land? Sie hatten seit Monaten keinen Sturm mehr gejagt. Wenn sich dort hinten einer zusammenbraute …
    Gerade wollte sie nach unten klettern und Alarm schlagen, da verschwand das Funkeln abrupt. Hel hielt inne, ein Bein über dem Korbrand. Der Wind zerrte an ihrem geflickten Mantel. Nichts. Der Funke war erloschen wie ein Kerzenlicht.
    Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie hatte es sich doch nicht eingebildet.
    Hel wartete noch eine Weile, doch nichts

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