Die Sturmrufer
dass sie bis gestern noch nie in ihrem Leben einen lebendigen Meeresfisch gesehen hatte. »Du hast es doch vorhin selbst gesagt. Ein Hai. Ein ziemlich großer Sandhai. Sie jagen im flachen Wasser in der Nähe der Sandbänke nach den Bartrochen, die sich gerne hierher zurückziehen. Aber keine Sorge – Sabin weiß, wie man mit ihnen umgeht.«
Sabin wusste es vielleicht, schön für sie! Aber Amber wusste es ganz sicher nicht. Sie kauerte sich so weit wie möglich vom Bootsrand entfernt auf die Bank. Ihr Herz raste und ihre Beine kribbelten – vielleicht strich die Bestie jetzt gerade unter dem Boot entlang?
»Und was ist eine Dschellar?«
»Jemand, dem du nie Antwort geben solltest. Sie kann die ganze Schwere des Meeresbodens an sich ziehen, dann umschlingt sie Schiffe und sinkt mit ihnen auf den Grund. Und bei Menschen kann sie manchmal auch nicht widerstehen.«
Das Kribbeln in Ambers Nacken und in ihren Beinen wurde unerträglich. Hätte sie doch nicht gefragt! Inu musterte ihr blasses Gesicht. »Hast du dir das Leben in Dantar so vorgestellt?«, fragte er plötzlich.
Amber wollte etwas antworten, als das Platschen wieder ertönte, diesmal hinter ihr. Erschrocken griff sie nach dem Ruder, bereit, auf jede Bestie einzuschlagen, die sich zeigen würde, aber dann sah sie mit grenzenloser Erleichterung, dass es nur Tanijen war. Er schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. »Sabin…«, keuchte er. Amber sprang auf und verlor beinahe das Gleichgewicht. Inu packte sie am Arm.»… bringt… einen Mann der Besatzung hoch!«, beendete Tanijen seinen Satz und deutete auf eine Stelle nicht weit vom Boot.
Amber brauchte mehrere Augenblicke, um zu begreifen, was das bedeutete. Und dann konnte sie es mit eigenen Augen sehen: Ein seltsames Wesen schwebte unter der Wasseroberfläche heran. Auf den ersten Blick wirkte es, als hätte es so viele Gliedmaßen wie ein Krake, es kam näher, wurde deutlicher und deutlicher, zeigte Sabins wallendes Haar und ein weißes Gesicht – und durchbrach schließlich die Wasseroberfläche. Sabin hielt einen bärtigen Mann mit langem schwarzem Haar in den Armen. Seine Augen waren geschlossen und seine Arme trieben willenlos an der Wasseroberfläche. Im Gegensatz zu Sabins erhitztem Gesicht wirkte seine Haut fischbleich und grünlich. Amber wurde auf der Stelle schlecht. Mit zitternden Knien ließ sie sich auf die hölzerne Bank sinken. So hatte sie sich den Auftrag nicht vorgestellt. Von der Bergung von Toten hatten sie ihr nichts gesagt!
»Sind noch mehr da unten?«, rief Inu. Sabin schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre nassen Locken flogen. »Dem Balivan sei Dank, nein. Er hatte sich in den Vorratsraum geflüchtet, Skigga allein mag wissen, was er sich dabei gedacht hat, sich da unten zu verkriechen, statt das Schiff mit den anderen sofort zu verlassen. Hier, zieht ihn hoch!« Mit wenigen Schwimmzügen brachte sie den Ertrunkenen zum Boot, wo ihn Inu und Tanijen, der inzwischen wieder ins Boot geklettert war, in Empfang nahmen. Bäche von Wasser strömten aus der nassen Kleidung des Mannes, als sie ihn behutsam über den Bootsrand hoben. Amber hatte in ihrem Leben schon manchen Toten gesehen, aber der Anblick dieses Mannes machte ihr Angst. »Warum legt ihr ihn nicht auf das Floß?«
Sabin funkelte sie wütend an. »Wie kannst du so etwas nur fragen? Weil er ein Mensch ist und kein Gepäckstück, das wir einfach so mit dem Floß zurücklassen, wenn der Wind zu stark wird.« Sie schluckte und Amber bildete sich ein, dass die Taucherin gerötete Augen hatte und ein paarmal zu oft zwinkerte, aber es war sicher nur das Meerwasser, das unter die Kristallschalen geraten war und nun in Sabins Augen brannte. »Wir fahren zu einem der großen Schiffe und übergeben ihn dort«, bestimmte Sabin und kletterte flink auf das Boot. »Das Floß lassen wir so lange hier.«
Amber war froh, sich zum Rudern umdrehen zu müssen, sodass der Tote hinter ihr lag. Ihre Zähne klapperten, obwohl ihr nicht kalt war.
Die Wasseroberfläche kräuselte sich jetzt stärker, der Wind raute die See auf und blies Amber mitten ins Gesicht. Einmal blickte sie über die Schulter zur Sandbank. Warum starrten die Leute auf den anderen Booten zu ihnen herüber? Amber sah Münder aufklappen und fassungslose Gesichter. Dann begann ein Seemann eine Fackel zu schwenken. »Rudert!«, brüllte er. Hinter ihr stieß Sabin einen Fluch aus.
Eine Bö kam aus dem Nichts, erfasste das Boot und drehte es um seine eigene Achse. Aus
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