Die Sturmrufer
zähen Masse. Diesmal hielt sie den Mund geschlossen, obwohl das Salz in ihrer Nase brannte. Ihre Hände krampften sich um das Seil. Sie brauchte einige Augenblicke, um wirklich zu begreifen, dass sie im Wasser trieb. Dann begann sie mit aller Kraft am Seil zu ziehen.
Das Meer
D as Schlimmste war die Machtlosigkeit. In der Nacht war nicht einmal zu erkennen, wo der Himmel endete und wo das Meer begann. Nur ein Glitzern hier und da verriet das Wasser – und das Spottlied des Meeres, das Glucksen und Rauschen, das Amber längst wie Kichern und höhnisches Getuschel erschien. Seit es Nacht geworden war, hatte sie jedes Zeitgefühl verloren. Sie fror im Wasser und konnte nichts dagegen tun, dass ihre Zähne klapperten. Das Seil schnitt bei jedem Wellenschlag tief in die Mulde unter ihren Rippen ein. Immerhin wurde der Wind ruhiger, das umgekippte Boot tanzte nun in großen Bogen über die Wellen und sprang nicht mehr wie ein bockendes Pferd. Um das Gewicht gleichmäßig zu verteilen, hielten sie sich je zu zweit an einer Seite des Bootes fest. Ambers Finger waren taub, so lange klammerte sie sich bereits an den schartigen Kiel. Am Himmel war kein einziger Stern zu sehen. Und unter ihr war die schwarze Unendlichkeit, in der Zähne lauerten, Flossen und Fangarme. Sie konnte beinahe fühlen, wie Ungeheuer sie beobachteten, und zog die Beine so nah an den Körper, wie sie konnte. In den ersten Stunden hatte die Angst sie taub und starr gemacht, nun aber heulte sie vor Verzweiflung. Zum hundertsten Mal tastete Amber nach ihrem Messer am Gürtel. Inu hatte ihr eingeschärft, dass sie das Seil um ihre Hüfte sofort kappen müsste, sollte das gekenterte Boot sinken.
»Keine Angst«, hatte er ihr zugemurmelt. »Es ist unwahrscheinlich – das Boot ist aus Marjulaholz gemacht, sehr leicht und mit vielen Lufteinschlüssen, außerdem ist es mit Wachsöl versiegelt. Aber manchmal saugt das Holz durch Risse Wasser auf.«
Die Vorstellung, von dieser Holzschale unaufhaltsam in die Tiefe gezerrt zu werden, war schlimmer als alles andere. Auch die anderen waren mit Inus Seilen gesichert. Fassungslos hatte Amber beobachtet, wie Sabin sogar den Toten geborgen hatte, nachdem das Boot von der großen Welle umgeworfen worden war. Als das Wüten des Sturms etwas nachließ, hatte Inu den Ertrunkenen in ein Tuch eingeschnürt, das er um den Oberkörper gebunden trug, und Sabin hatte den leblosen Körper unter Wasser an der Sitzbank des kieloben treibenden Bootes festgebunden, damit sein Gewicht sie nicht noch mehr nach unten zog.
Amber sah die anderen nur schemenhaft, dunkle Silhouetten vor dem nächtlichen Meer. Sabin und Tanijen flüsterten miteinander wie Hallgespenster, Phantome, die sich nur noch vage an ihr menschliches Leben erinnerten.
Nach und nach ließ der Wind nach, das Boot hörte auf zu schwingen wie eine betrunkene Schaukel und ging in einen sanfteren Rhythmus über, der die Erschöpfung der vier Menschen, die sich daran festklammerten, allerdings noch schlimmer machte. Amber merkte, wie ihr trotz der Übelkeit und der Angst die Augen zufielen. Sie glitt beinahe vom Kiel ab und schreckte wieder hoch.
»Der Sturm zieht weiter«, erklang Sabins leise Stimme von der anderen Seite des Bootes. »Habt ihr gesehen, dass jenseits der Sandbank alles ruhig war?«
»Wären wir nur einige Bootslängen näher an der Sandbank gewesen, hätte der Wind uns verschont«, murmelte Tanijen und hustete.
Amber schluckte, ihr Hals war ausgedörrt, das Salzwasser, das sie in den vergangenen Stunden geschluckt hatte, entfachte nun einen mörderischen Durst in ihrer Kehle. Doch auch der Mondfischbehälter mit Gieltee, den Inu mitgenommen hatte, war bei der letzten Woge über Bord gegangen.
»Wo sind wir?«, brachte sie nach einer Weile heraus. »Kommen wir wieder zurück?«
Das Schweigen war Antwort genug.
»Wenn wir nicht vor Erschöpfung untergehen wollen, müssen wir abwechselnd schlafen«, meldete sich Sabin nach einer Weile zu Wort. Inu glitt zu Amber und legte ihr den Arm um die Taille.
»Mach die Augen zu und ruh dich als Erste aus«, sagte er sanft. »Keine Sorge. Ich halte dich fest.«
*
Nie hatte Amber sich einsamer gefühlt. Inu schlief, sein Kopf lehnte schwer an ihrer unverletzten Schulter, sein Haar trieb wie ein Bündel Seile im Wasser. Sosehr Amber Nähe hasste, diesmal war sie froh, einen anderen Menschen bei sich zu spüren. Sabin hatte die Arme auf den Bootsrumpf gelegt und den Kopf daraufgebettet. Selbst im
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