Die Sturmrufer
Schlaf umschloss ihre linke Hand den Schaft der Harpune, als könnte nichts und niemand ihr diese Waffe entreißen. Tanijen blickte immer wieder zu dem Halbmond, der das Wasser in ein glänzendes Seidentuch verwandelte.
Ambers Aufgabe war denkbar einfach: Sie sollte nach brennenden Fischen Ausschau halten. Alles, was sie über die Tiere wusste, war, dass sie auch in der Nacht leuchteten wie Gold und dass die Berührung mit ihrer Haut schmerzhafte Verbrennungen verursachte. Doch statt der brennenden Fische schob sich ein dunkler Körper unter der Wasseroberfläche an das Boot heran. Amber reagierte blitzartig und griff nach ihrem Messer, doch Inu lehnte zu schwer an ihrer Schulter und ihrem Arm.
»Inu!«, rief sie dem Seiler ins Ohr. »Ein Hai!«
Sabin und Inu schreckten hoch, aber im Gegensatz zu Inu, der schlaftrunken und irritiert wirkte, war Sabin sofort hellwach. »Nicht bewegen«, sagte sie. »Das ist kein Hai, nur ein Waran. Harmlos, wenn er jedoch erschrickt, schlägt er mit dem Dornschwanz um sich. Der Tote hat ihn angelockt. Ich vertreibe das Tier.« Lautlos tauchte sie unter. Wasserwirbel brachten das manövrierunfähige Gefährt in schaukelnde Bewegung. Stacheln kratzten am Holz, als das Ungeheuer unter dem Boot hindurchtauchte und direkt hinter Inu an die Oberfläche kam. Im Mondlicht sah Amber nur schemenhaft ein mit Knochenhöckern übersätes Echsengesicht. Eben war ihr noch kalt gewesen, jetzt aber fühlte sie sich, als würde ein Fieber sie verbrennen. Sabin tauchte wieder auf.
»Wenn wir mit seinem Blut nicht die… anderen anlocken würden, würde ich ihn erlegen«, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
Das Ungeheuer schwamm weiter, spitze Rückenstacheln schnitten das Wasser, dann bog sich ein schlangenförmiger, mit Dornen bestückter Schwanz aus dem Wasser, während das Tier abtauchte.
»Ein Dornwaran«, sagte Inu. »Sie leben auf Inseln, aber sie können große Entfernungen zurücklegen.«
»Heißt das, wir sind in der Nähe einer Insel?«, brachte Amber heraus.
»Siehst du etwa eine?«, fuhr Sabin sie grob an. Amber zuckte zusammen.
»Sabin!«, mahnte Tanijen. »Mach ihr nicht noch mehr Angst. Du siehst doch…«
Amber schrie auf, sie konnte nichts dagegen tun, ihre Beine strampelten von ganz allein im Wasser und stießen das weg, was ihren Oberschenkel gestreift hatte – ein Fuß des Toten unter dem Boot. Ihr Schreck schlug in pure Wut um. »Verflucht!«, brüllte sie. »Warum schleppen wir ihn mit? Seid ihr noch bei Trost?«
»Weil irgendwo in Dantar seine Familie auf ihn wartet«, gab Sabin kühl zurück. Amber stöhnte auf. Sie war unter Verrückten gelandet!
»Du bist doch Navigator!«, fuhr sie Tanijen an. »Du musst doch wissen, wo es Inseln gibt und wie wir zurückkommen.«
Tanijen machte einen Versuch, ihr beruhigend zuzulächeln. »Geduld, Amber. Wir treiben in die richtige Himmelsrichtung – mit Kurs auf Dantar, aber wo genau wir sind, könnte ich dir nur sagen, wenn ich meine Instrumente hätte. Allzu weit weg können wir nicht sein, glaub mir, früher oder später stoßen wir auf die ersten Inseln. Dort leben Fischer. Wir leihen uns ein Boot und sind morgen wieder in Dantar.«
Inu rückte näher an sie heran, legte den Arm um sie und zog sie zu sich heran. Amber schloss die Augen und vergaß für einige Momente die Tiefe unter sich. »Eins kannst du mir glauben, Amber«, flüsterte Inu ihr ins Ohr. »Ich habe genauso viel Angst wie du!«
*
Amber musste für einen Augenblick weggenickt sein, doch nun schreckte sie hoch. Es war zu still, selbst Inu neben ihr schien die Luft angehalten zu haben.
»Nicht erschrecken«, flüsterte Sabins Stimme ihr zu. »Tu so, als würdest du sie nicht sehen.«
Ein leises Zischen und Klicken links von ihr ließ Ambers Herz schneller schlagen. Links von ihr durfte nichts sein! Sie blinzelte.
Nebel hüllte das Boot ein, täuschte ihre Augen und gaukelte ihr vor, eine Gestalt neben sich zu sehen. Schultern ragten aus dem Wasser, Hände hielten sich am Boot fest und ein dunkles Gesicht wandte sich Amber zu. Und als die Wolken auseinanderdrifteten, erkannte Amber, dass die Gestalt tatsächlich schwarz war. Nun zeigte sie ein Grinsen, bestehend aus den Gehäusen von Meeresschnecken. Schlick löste sich von den wulstigen Lippen und floss über die Schnecken. Matte Haiaugen starrten Amber an.
»Schau weg!«, flüsterte Sabin. »Amber, schau mich an!«
Amber schluckte und gehorchte. Sabins helles Haar schimmerte, doch
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