Die Sturmrufer
ihre Gesichtszüge konnte Amber im Mondschatten nur erahnen. Das Wesen schmatzte.
»Ist das…?«, flüsterte Amber.
»Eine Dschellar, ja«, raunte Inu. »Beachte sie nicht! Schau woanders hin.«
»Du riechst nicht nach Meer«, sagte die Dschellar. Es klang, als würde sie Geräusche zu Worten formen, und bei jedem Wort klickten die Meeresschnecken gegeneinander. Eine Krebsschere fiel aus ihrem Mund und versank. »Antworte ihr nicht«, flüsterte Inu. Die Dschellar legte ruckartig den Kopf schief und biss auf etwas, was sie offenbar schon die ganze Zeit in ihrem Maul aufbewahrt hatte. Es knackte. »Du riechst nach Stein und Staub«, klickte sie nun. Ihre Finger wurden länger und breiter, flossen zusammen und füllten jede Ritze im Holz aus. Amber hangelte sich nach rechts, um dem Fließen auszuweichen. Bestand die Dschellar aus Schlick? Die Dschellar wurde schwer, das Boot senkte sich bedrohlich. Amber tastete hektisch nach ihrem Messer. Sie würden sinken! Das seltsame Wesen verharrte, als es etwas hörte, was auch Amber kaum glauben konnte: Tanijen summte ein Lied. Eine Weile summte er ohne Worte, es war eine schnelle Tanzmelodie mit vielen Sprüngen und Rhythmuswechseln. Dann sang er leise vor sich hin. Er hatte eine schöne Stimme, dunkel und doch sanft.
»Wollt schwimmen ich im heißen Meer,
wollt tauchen tief und weit
von Dantar bis nach Delahen
und bis zum Rand der Zeit.«
Die Dschellar floss wieder zu einer Gestalt zusammen. »Und bis zum Rand der Zeit«, wisperte sie aufgeregt. Tanijen sang weiter, während die Dschellar wuchs und wuchs, um über den Kiel hinwegsehen zu können. Amber spürte einen Wirbel rauer Sandkörnchen an ihren Beinen.
»Umschließt sie jetzt das Boot?«, flüsterte sie Sabin zu.
»Scht!«, kam es leise von der anderen Seite.
»Kein Snai, kein Naj, kein Schlangentier
jagt mich fort von hier.
Und wenn ich meinen Kopf verlier,
verlier ich ihn bei…«
Ein Platschen ertönte und Tanijens Lied brach abrupt ab. Hatte Sabin mit der flachen Hand auf das Wasser geschlagen?
»Oh«, sagte Sabin laut. »So ein Pech, das Lied ist ins Wasser gefallen.«
Die Dschellar klackte noch aufgeregter. Muschelschalen prasselten auf den Bootsrumpf.
»Zu schade«, bestätigte Tanijen. »Es ist mir entwischt. Da unten schwimmt es.«
Das Wesen war so aufgeregt, dass es seine Kontur verlor und als schwarze Fläche über das Boot schwappte. Amber spürte, wie sich kalter Schlamm über ihre Finger schob, und schauderte, aber um nichts in der Welt hätte sie den Kiel losgelassen.
Tanijens Stimme zitterte, als er versuchte möglichst unbesorgt weiterzusprechen. »Ausgerechnet dieses Lied«, meinte er bedauernd.
»Das Lied«, wisperte das Wesen. »Das Lied!«
»Stimmt«, sagte Sabin. »Es war das Schönste von allen. Es sieht aus wie ein Glashai, ist aber zu schnell, niemand wird es fangen können. Selbst für eine Dschellar, die kein Boot umklammert, wäre es zu schnell…«
Das Boot sank noch einige Fingerbreit, dann zog sich der Schlamm zurück und löste sich so schnell vom Holz, dass das Boot wie ein Korken nach oben schoss. Ein Sog zerrte an Ambers Beinen, das Seil nahm ihr fast die Luft, aber dann waren sie frei.
»Sucht die Dschellar jetzt etwa… das Lied? Sie glaubt doch nicht im Ernst, dass ein Lied wie ein Fisch aussieht?«
Sabin lachte leise. »Nicht alle fallen darauf herein, aber diese hier war dümmer als ein Schneckenfisch. Je besser sie ihre Umgebung – zum Beispiel ein menschliches Gesicht – nachahmen können, desto schlauer sind sie. Nun, unsere Dschellar war wirklich kein Talent.«
»Sie können sich unendlich schwer machen und ziehen Schiffe auf den Grund des Meeres«, sagte Inu neben ihr. »Wir hatten Glück, dass sie neugierig war und nicht wusste, was das für ein seltsames Wesen ist – Holz und viele Beine. Hätte sie…«
Er verstummte und auch Sabin und Tanijen zogen scharf den Atem ein. Amber spürte es – ein Ziehen und Zerren, das sie leicht aus dem Gleichgewicht brachte. Es war kein Wind. Ein Wind hätte sie geschoben. Das, was sie nun spürte, war ein Sog! Das Boot drehte sich ein paarmal um seine Achse und trieb dann längsseits auf dem Wasser dahin.
Über ihnen wurde das Geräusch eines gewaltigen orkanartigen Windes lauter, aber der Nebel hielt sie dicht umschlossen. Dann hob sich jedes einzelne Haar auf Ambers Kopf, sträubte sich und strebte zum Himmel. Ein erstaunter Laut aus Sabins Richtung zeigte ihr, dass sie nicht die Einzige
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