Die Sturmrufer
holte aus. Die Bewegung war ihr so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sie auch mit geschlossenen Augen hätte durchführen können. Selbst ihr schmerzender Rücken war vergessen. Sie kannte jedes Holz, sie wusste, wie es sich anfühlen würde, wie hart sie zuschlagen musste. Marjulaholz war sehr hart und konnte tückisch glatt sein.
Die Axt sauste in das Holz wie ein Hammer auf eine Eierschale. Der Schwung riss Amber nach links. Sie fing sich mit einem Ausfallschritt ab, der ihr in den Rücken fuhr. Inu stieß einen erstaunten Ruf aus. Die Axt war durch dünne Rinde gebrochen und hatte den Stamm halb durchgehauen.
»Weg!«, schrie Amber. Hastig brachten sie sich in Sicherheit und beobachteten, wie der Baum knarrend kippte – und fiel. Die gewaltige Krone prallte auf den Fels.
»Was zum Kerot…«, flüsterte Inu.
Unwillkürlich drängten sie sich aneinander und wichen weiter zurück. In den Ästen bewegte sich etwas, Rinde beulte sich, Zweige schwollen an und zogen sich zusammen, als würde darunter etwas atmen.
Ein glitschendes Geräusch erklang, dann brach der erste Ast auf.
Etwas Schwarzes, Glattes rutschte heraus, wand sich auf dem Boden und begann dann in Windeseile auf das Meer zuzukriechen. »Aale!« Inu war fassungslos. »Sie… sie schlüpfen aus dem Baum!«
Amber verzog angewidert den Mund. Mehr und mehr Äste brachen. Immer mehr Tiere glitten aus den Ästen und begannen ihre schlingernde Wanderung zum Wasser.
Nie hätte sich Amber träumen lassen, dass sie eines Tages den Wunsch verspüren würde, auf Sabins Schiff zu springen und Hals über Kopf auf das Meer zu fliehen.
Die Aale überschlugen sich im Fall von der Anhöhe, klatschten auf dem Felsen auf und arbeiteten sich zum Wasser vor.
»Amber, sieh dort!« Inu deutete auf die Hügelkuppe, hinter der die Spitze des Burgturmes zu sehen war. Zum ersten Mal, seit sie hier gestrandet waren, hörte Amber die Vögel schreien – klagende, lang gezogene Rufe, die schmerzhaft in den Ohren hallten. Über dem Turm schoss der Schwarm hoch wie eine riesige Faust. Ein einziges Wesen, das sich am Himmel ballte, gelenkt von einem gemeinsamen Ziel. In dieser Sekunde erwartete Amber, dass die gefiederte Faust den Turm zertrümmern würde. Doch dann wurde ihr bewusst, dass die Vögel sich ihnen zuwandten, und für einen Augenblick sah sie sich selbst und Inu: zwei Käfer am Boden, verloren auf der Insel. Der Schwarm zerstob in einem Kreischen und nahm Kurs auf die Hügel.
»Sie kommen zu uns!« – Amber wollte diesen Satz sagen, doch ein plötzlicher Sturmwind, eine gewaltige, beinahe sichtbare Woge aus Luft, walzte sie einfach nieder. Das Einzige, was sie spürte, war Inus Hand, die ihre Finger umklammerte – wie bei ihrer Ankunft in Dantar.
Hart prallten sie auf und drückten sich instinktiv flach an den Boden. Der Sturm brauste über ihnen. Dann waren die Vögel da, flitzten wie Schwalben knapp über ihren Köpfen hinweg, trudelten im Sturm wie geschickte Libellen, die jede Windströmung ausnutzten. Zehn-, fünfzehnmal kreisten sie wie ein kochender Wirbel aus Flügeln und blitzenden Augen über ihnen und nahmen dann Kurs auf das Ufer. Eine Windhand ergriff die Aale und schleuderte sie einfach in die Luft. Die Vögel schossen nach oben, setzten zum Sturzflug an und fielen bis kurz vor dem Boden.
Ein seltsamer Tanz, der Amber einen Schauer über den Rücken jagte. Alles an dieser Insel widersprach jedem Gesetz der Natur!
»Die Vögel!«, schrie sie gegen den Sturm an. »Es sind die Vögel! Sie bringen den Wind! Wir müssen Sabin aus dem Wasser holen!«
Einer der Fische klatschte direkt vor Ambers Nase auf den staubigen Boden. Sie sah winzige Zähne aufblitzen und einen zarten Flossensaum am Rücken. Das Tier zuckte ein letztes Mal und blieb reglos liegen. Das Meer begann zu brüllen. Wogen erhoben sich. Schleier von Gischt wehten durch die Luft.
Inu spuckte Staub und Sand aus und richtete sich auf. »Ich gehe zum Strand! Aber erst müssen wir von der Anhöhe runter, bevor der Sturm zum Orkan wird. Los, komm!«
Sie flohen tief gebeugt, sich gegenseitig stützend über die Anhöhe. Holzstücke flogen ihnen um die Ohren und prallten schmerzhaft gegen ihre Kniekehlen und gebeugten Rücken. Das Schreien der Vögel steigerte sich zu einem schrillen Kreischen. Eine Klaue aus Wind harkte durch das Meer und malte bizarre Muster in das Wasser. Blinzelnd erkannte Amber die Strandsichel, in der die Timadar lag. Nicht weit davon schwamm Sabin im Wasser.
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