Die Sturmrufer
»Das kam nicht vom Dach!«
»Es ist nichts, nur der Wind«, sagte Tanijen. Doch er fröstelte bei diesen Worten sichtlich. Als er Ambers prüfenden Blick bemerkte, versuchte er sich an einem verschmitzten Lächeln. »Nachdem sie dich kennengelernt haben, werden sich diese Nachttiere sicher nicht mehr in die Nähe der Burg wagen.«
*
Inu schreckte mit klopfendem Herzen aus einem Traum von Wirbeln und Wasser. Er war sicher, helle Augen zu sehen und ein schattenhaftes Wesen, das sich über ihn beugte, doch als er sich erschrocken umsah, kitzelte nur Haar seine Wange: Ambers Haar.
Der Sturm hatte aufgehört, Amber und er saßen immer noch mit dem Rücken an die Wand gelehnt, die vom Kaminfeuer warm war. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Das Landmädchen schlief ebenso angespannt wie Sabin – der Schatten eines Albtraums flackerte über ihr Gesicht. In diesem Augenblick waren sie und Sabin sich erstaunlich ähnlich. Verstohlen warf er einen Blick auf Sabin. Wie immer schlief sie zusammengekrümmt, als müsste sie sich selbst im Schlaf gegen die Welt außerhalb des Wassers schützen. Und wieder einmal wünschte sich Inu, in ihre Träume und Gedanken blicken zu können. Früher, als sie noch zu viert gewesen waren, schien alles so einfach und klar. Doch nun war es, als trieben sie jeder für sich in tintenschwarzem Wasser, nur verbunden durch ein paar windverwehte Erinnerungen.
Über seinem Kopf knarrten Dielen. Tanijen suchte in den Zimmern also immer noch nach Anhaltspunkten. Und da war auch wieder dieses andere Geräusch: ein Raunen und Flüstern. Worte, die wie Spinnenfäden in der Luft trieben, kaum sichtbar, nur aufblitzend, wenn das Licht in einem bestimmten Winkel auf sie fiel.
Als Inu sich vorsichtig regte, glitt Ambers Hand im Schlaf zu dem Axtgriff. Er lächelte. Ob sie wusste, wie verletzlich sie wirkte, wenn sie wütend war? Er widerstand der Versuchung, ihr mit der Hand über die Wange zu streichen – bei der kleinsten Berührung würde sie hochschrecken, die Faust zum Schlag geballt. Es widersprach jeglicher Denkweise eines Dantarianers, einer Person, die ihm nicht einmal genau sagte, woher sie stammte, so nahe zu kommen. Sie war eine Fremde, nach wie vor, aber Inu hatte das Gefühl, als würde er sie viel besser kennen, als sie selbst ahnte. Amber hatte sein Seil am Tor mit der Axt durchschlagen. Jedem hätte er ein solches Verhalten unendlich übel genommen, aber Amber konnte er diese Barbarei seltsamerweise verzeihen. Die Sehnsucht, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, wurde so groß, dass sie beinahe schmerzte. Doch sie würde eine solche Regung ohnehin nicht zulassen und auch für ihn war es besser, sich an die Regeln zu halten. Er war ein Seiler. Das Leben eines Seilers war wie ein Netz: Jeder Knoten war vorausbestimmt, hatte seinen Platz und seine Aufgabe. Alles andere würde das Netz auflösen. Ein Mädchen vom Land konnte nie zum Netz eines Seilers gehören. In einem Augenblick wie diesem hasste er den Seilerkodex und hätte alles dafür gegeben, nur ein ganz gewöhnlicher Fischer oder Händler zu sein.
Inu seufzte.
Amber schrak zusammen und prallte zurück, die Augen weit aufgerissen, ein Traumbild vor Augen, das sie mit niemandem teilen würde. Er beschwichtigte sie mit einer Geste. »Erschlag mich nicht mit der Axt«, sagte er leise. »Ich bin’s, Inu!«
Sie schluckte und blinzelte verwirrt. Inu fragte sich, wen sie wohl vor sich gesehen haben mochte.
»Entschuldige«, murmelte sie. »Ich habe… wieder geträumt.«
»Schlaf weiter.« Und dann sagte er etwas, was ihn selbst am meisten überraschte: »Ich passe auf deine Träume auf, Amber.«
»Das wäre schön, Inu«, murmelte sie. »Ich wünsche mir nichts so sehr, als nicht mehr zu träumen. Aber die Burg hier lockt die Gespenster an – und die bösen Träume.«
Sie lächelte verlegen, dann rückte sie zu seiner Enttäuschung ein Stück von ihm ab und rollte sich zusammen. Nach und nach wurden ihre Atemzüge wieder tiefer.
Inu konnte nicht mehr schlafen. Er wusste nicht, wie lange er dagesessen und das schlafende Mädchen betrachtet hatte, als ein Flüstern ihn aufschreckte. Da war sie wieder: die Stimme. Er hätte jeden Eid geschworen, dass sie direkt aus seinem Kopf kam.
Wasser… Lemar…
Sein Blick wanderte zur Tür. Und während er noch um eine Entscheidung rang, bemerkte er, dass er längst dabei war, mit der Hand nach dem dünnen Seil zu tasten, das er unter seinem Hemd verborgen trug. Es war so lang wie
Weitere Kostenlose Bücher