Die Sturmrufer
Von hier aus sah sie aus wie eine Spielzeugfigur. Wellen trugen sie hin und her. Auf Inus Pfiff, der Amber erschrocken zusammenzucken ließ, wandte das Mädchen im Wasser den Kopf und winkte. Amber war sich sicher, dass die Taucherin gleich ins Meer tauchen und verschwinden würde, aber Inu brüllte und winkte und schließlich schwamm Sabin zögernd zum Ufer. Eine Woge erfasste sie. Sie nutzte den Schwung der Welle und rannte auf den Strand.
»Warte auf sie!«, schrie Amber. »Ich laufe vor zur Burg.«
Inu protestierte, doch der Wind übertönte seine Worte.
*
Der Weg zum Burgtor erschien Amber länger als die ganze Wanderung aus den Bergen nach Dantar. Endlich erreichte sie keuchend die beiden Torflügel, die durch ein Seil gesichert waren. Amber rüttelte an dem Seilknoten, mit dem Inu das Tor verschlossen hatte, doch dann siegte ihre Ungeduld und sie schlug das Seil mit der Axt durch. Die Torflügel ächzten, als der Wind sie aufdrückte.
Amber nahm Anlauf, als die Flügel aufschwangen, und rannte los. Die Windstille im Hof brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte und konzentrierte sich so sehr darauf, nicht zu fallen, weshalb sie erst nicht bemerkte, dass der Tümpel über sein steiniges Ufer getreten war. Wellen schwappten über ihre Füße. Dieses schwarze Wasser hier war eine ferne Spiegelung der Bewegungen des Meeres.
Die Tür war nicht verschlossen, sondern stand einen Spaltbreit auf. »Tanijen?«
Keine Antwort. Angst schnürte Amber die Kehle zu. Nicht Tanijen!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie packte ihre Axt und stieß die Tür auf, jederzeit darauf gefasst, angefallen zu werden.
»Tanijen!«
Der Tisch war umgestürzt, Pfützen glänzten auf dem Boden. Durchweichtes Papier lag im ganzen Raum verstreut. Mit rasendem Herzen trat Amber in den Raum, lauschte angespannt und hörte nur ihren eigenen schnellen Atem. Dann entdeckte sie, dass der Spiegel zerbrochen war. Ein Scherbenberg lag säuberlich zusammengeschoben auf einem Haufen. Jemand hatte nach der Zerstörung also bereits mit dem Aufräumen begonnen.
»Amber, was ist…«
Sie wirbelte herum und hätte Tanijen um ein Haar mit der stumpfen Seite der Axt niedergeschlagen. Sein Anblick erschreckte sie beinahe noch mehr als seine Abwesenheit eben. Sein Haar war zerwühlt, seine Wange aufgeschlagen und blutverkrustet.
»Waren sie hier?«, stieß sie hervor.
Schmutz klebte an seinen Händen, die er nun hob. Er war blass und sah aus, als hätte er Fieber. Seine Augen glänzten riesengroß im Halbdunkel der Halle.
»Sie waren also hier!«, rief Amber. »Sie sind eingebrochen und haben dich angegriffen…«
»Nein«, sagte Tanijen leise, aber scharf. Dann rang er sich ein Lächeln ab und sah sie so aufmerksam an, als würden sie sich zum ersten Mal gegenüberstehen. »Es war nur meine eigene Dummheit«, erklärte er. »Ich hatte die Tür geöffnet, weil ich… ich dachte, ich hätte euer Klopfen gehört. Aber stattdessen sind einige… der Vögel in den Raum geflogen. Ich habe versucht sie zu vertreiben und habe dabei mit dem Stock den Spiegel von der Wand geschlagen.«
»Und den Tisch umgeworfen?«
Tanijen lachte auf eine Art, die Amber nicht an ihm kannte. Ein wenig erinnerte es sie an Sebe, aber wahrscheinlich lag es nur daran, dass er so verstört war.
»Ich bin gestolpert«, sagte er und berührte behutsam seine lädierte Wange. »Gerade war ich dabei, aufzuräumen. Warum bist du schon hier?«
»Draußen tobt der Sturm. Hast du das nicht gehört? Es sind die Vögel! Wenn sie mit den Flügeln schlagen, entsteht Wind! Inu holt gerade Sabin und…«
Ein Schatten fiel in den Raum. Amber fuhr sofort herum, die Axt fest in den Händen, bereit zuzuschlagen. Doch es war nur Inu.
Er keuchte vom schnellen Lauf und schüttelte den Kopf, bis seine langen Zöpfe wieder glatt über Schultern und Rücken fielen.
Er stutzte, als er den umgefallenen Tisch entdeckte. Hinter ihm erschien nun auch Sabin in der Tür. Ihre Locken waren noch nass und klebten ihr in wirren Bogen an Stirn und Wangen. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als sie Tanijens geschundenes Gesicht sah.
»Keine Sorge!«, kam Tanijen jeder Frage zuvor. »Ein Unfall, nichts weiter. Es ist… nichts passiert!«
Worte und Wellen
B äume, die Brutstätten für Aale sind«, murmelte Sabin. Sie war totenblass und hatte die Knie bis ans Kinn gezogen. »Vögel, die Wind bringen. Das darf es nicht geben! Und heute Nacht diese Ungeheuer… Als hätte jemand Dinge
Weitere Kostenlose Bücher