Die Sturmrufer
Rumpeln zunächst nicht wahrnahm. Als es ihm auffiel, klappte er das Buch sofort zu und griff instinktiv zum Stock, den er an den Tisch gelehnt hatte.
Beruhige dich, schalt er sich. Es sind nur die anderen – sie sind vom Strand zurückgekehrt. Hastig rollte er die Karte zusammen und schob sie unter sein Gewand.
Doch niemand klopfte mit dem verabredeten Zeichen an die Eingangstür. Ein weiteres Rumpeln erklang, diesmal lauter. Tanijen schluckte. Blitzartig spielte er alle Möglichkeiten im Kopf durch, die ihm einfielen: die Ungeheuer. War eines dieser Tiere in den Keller eingebrochen? Aber es gab keinen weiteren Eingang zum Keller. War etwas umgefallen? Tanijen lächelte nervös. Natürlich! Die Weinfässer im Keller mussten es sein. Als Inu und er den Toten auf einem der Tische im Keller aufgebahrt hatten, hatte Tanijen einige davon zur Seite gestellt. Offenbar war die wenig liebevoll aufgestapelte Pyramide nun ins Rutschen geraten und in sich zusammengestürzt. Wahrscheinlich lief der sauer gewordene Wein nun aus. Er sollte hinuntergehen und retten, was zu retten war. Er sollte…
Die Klinke der Kellertür quietschte, als jemand auf der anderen Seite sie herunterdrückte. Bevor die Tür ganz aufschwang, sah Tanijen das Meerwasser – in einer riesigen Pfütze breitete es sich auf den Steinfliesen aus. Ein bloßer Fuß mit blauen Nägeln setzte auf dem Boden auf. Ein weiterer Fuß, der in einem dünnen Lederschuh steckte, folgte. Tanijen hatte das Gefühl, sein rasendes Herz würde innehalten und stillstehen, so wie die Zeit.
War ich das?, schoss es ihm durch den Kopf. Das kann nicht sein, ich habe nicht… ich habe doch nur…
Der tropfende Tote starrte ihn aus gebrochenen Augen an und schwankte. Dann machte er einige weitere Schritte wie eine Marionette, die jemand an unsichtbaren Fäden bewegte. Tanijen sprang auf. Stuhlbeine kreischten über den glatten Boden. Im nächsten Moment stand er keuchend mit dem Rücken an die Wand gepresst, jeden Muskel angespannt, den Stock zum Schlag erhoben.
Der Tote sah sich um. Die Reste der Fesseln hingen von seinen Armen. Und Tanijen erkannte mit kaltem Entsetzen, dass die Enden zerfranst waren, als hätte der Tote sie durchgebissen. Das lange schwarze Haar fiel ihm über die Schultern, die Hakennase stach aus dem Gesicht hervor. Seltsamerweise war er nicht mehr aufgedunsen und grünlich, nur an den Stellen, wo die Seile sich tief in seine Haut gedrückt hatten, zeichneten sich noch helle Furchen ab.
»Was willst du?«, flüsterte Tanijen.
Der Tote stolperte ein paar Schritte in den Raum. Seine Lippen klafften auf, und nach einem tiefen Gurgeln, dem ein Schwall Wasser folgte, formte er mühsam einige tonlose Worte. »Sie lassen uns in Ruhe«, sagte er mit erstaunlich hoher Stimme. »Aber sie kommen wieder.«
Tanijen keuchte immer noch, seine Lunge war zu klein für die Luft, die er brauchte. War das eben wirklich die Stimme einer Frau gewesen? Er wich einen Schritt zur Seite, um den Tisch zwischen sich und den unheimlichen Gast zu bringen, gleichzeitig sah er sich nach einer besseren Waffe um. Der Spiegel – wenn er ihn zerbrach, konnte er eine Scherbe nehmen und…
Die Stimme des Toten veränderte sich, wurde zu einem Seufzen und dann zu einer dunklen, vollen Männerstimme. Mit einem törichten Gesichtsausdruck starrte er auf die Blätter und Karten.
»Lemar«, bellte er. »Du musst wahnsinnig sein! Bleib hier!«
»Sie sind am Strand, Loin«, antwortete er – plötzlich wieder mit einer anderen, dritten Stimme. Sie gehörte einem jungen Mann. »Das ist unsere Chance! Wenn wir jetzt nichts tun, wird es weitergehen.«
Eine Ahnung blitzte in Tanijens Gedanken auf – vielleicht auch nur die Ahnung einer Ahnung. Die Stimmen, der stumpfe Ausdruck…
»Wer ist am Strand?«, flüsterte Tanijen. »Lemar Le Hay? Bist du das?«
Der Tote schwankte nur und sagte nichts.
»Le Hay!«
Der Körper hob die Schultern. »Lemar Le Hay wird sterben«, sagte eine neue Stimme. Heiser war sie, und gebrochen. »Ich traue ihm nicht. Und weil ich ihm nicht traue, wird er sterben.«
Tanijen schluckte. Seine Kehle war ausgedörrt. Doch er räusperte sich und zwang sich, den Stock zu senken.
»Weißt du, dass du ertrunken bist?«
Zu seiner Überraschung lächelte der Tote – allerdings nur mit den Lippen, die Augen blieben ausdruckslos.
»Lemar ist ein Verräter«, sagte die heisere Stimme, »wenn du es nicht tust, werde ich ihn töten!«
»Er kann sie nicht freilassen«, sagte
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