Die Sturmrufer
ein Bergbewohner wagte sich in diese Seen. Sie waren tief und tückisch, mit Kammern und Gängen, die noch nie jemand erforscht hatte.
»Er nahm den Auftrag an und ging, obwohl ich nicht damit einverstanden war«, erzählte Sabin leise weiter. »Wir hatten unser zweites Boot beim Sturm verloren und… Satu wollte Geld verdienen, nur einen Sommer lang. Nun, er schickte Geld, der Sommer ging vorüber. Doch Satu kam nicht nach Hause. Stattdessen bekam ich einen Brief, in dem er erzählte, dass er in den Bergen bleiben wolle. Für… immer!« Verständnislos schüttelte Sabin den Kopf, als könnte sie sich nicht vorstellen, dass irgendjemand Dantar freiwillig verließ. Amber bekam zum ersten Mal eine Ahnung, warum Sabin die Leute aus den Bergen nicht mochte. Sie ist immer noch verletzt, dachte sie. Sie hat Satu an die Berge verloren. Und deshalb kann sie mich nicht leiden. In diesem Augenblick hätte sie fast gelächelt. Ob Satu sich so sehr nach den Bergen gesehnt hatte wie sie, Amber, sich nach dem Meer?
»Er tauchte weiter für die Edelsteinsucher«, fuhr Sabin fort. »Und dann… im Winter… erhielt ich einen Brief und ein Bündel. Sie teilten mir mit, dass sie ihn begraben hatten, und schickten mir einige persönliche Dinge zurück. Das…« – sie fuhr mit der Hand über eine der Brillen an ihrem Gürtel – »… ist alles, was mir von meinem Bruder geblieben ist.«
»Er ist also ertrunken«, sagte Amber leise. »Es ist gefährlich genug, im Sommer in den Grall-Seen zu tauchen. Im Winter schwimmen dort nur diejenigen, die sehr kaltblütig oder sehr verzweifelt sind, weil sie Geld brauchen. Manche geraten in die Eiswirbel und erfrieren, bevor sie…«
Abrupt verstummte sie und schalt sich selbst. Verdammt, wie konnte sie so ungeschickt sein?
Sabin warf ihr einen unergründlichen Blick zu.
»Vermutlich brauchte er Geld«, sagte sie trocken und beschleunigte ihren Schritt. Ein feiner Regen hatte eingesetzt und bedeckte ihre Locken mit einem Netz aus winzigen Tropfen.
»Sabin, warte! Entschuldige, ich wollte dich nicht daran erinnern… aber vielleicht war Satu in den Bergen einfach glücklich! Vielleicht wollte er dortbleiben, weil es ihm gefiel.«
»Warum sollte es ihm dort gefallen?«, fragte Sabin verächtlich. Amber schoss das Blut in die Wangen.
»Du kennst das Land nicht, Sabin. Wie kannst du darüber urteilen? Vielleicht träumte Satu von den Bergen, so wie ich von Dantar träumte. Manche Menschen werden in der falschen Stadt geboren oder im falschen Land. Meine Mutter sagte immer, ich hätte welliges Haar, weil ich mir schon vor meiner Geburt das Meer in den Kopf gesetzt habe. Und das stimmt! Ich habe mir immer schon gewünscht die Berge zu verlassen.«
»Herzlichen Glückwunsch. Dann bist du ja jetzt genau dort, wo du hinwolltest«, sagte Sabin ohne jede Ironie. »Mitten im Majumameer. Und? Bist du glücklich oder wünschst du dich zurück in die Berge? Ach nein, von dort bist du ja geflohen.«
»Wer sagt das?«, brauste Amber auf.
»Du selbst«, meinte Sabin trocken. »Dein Schweigen, deine Verletzungen, die Tatsache, dass du sogar deine Träume mit einer Axt in die Flucht schlagen willst – und der Beutel voller Geld an deinem Gürtel. Was hast du getan, Amber? Bist du eine Mörderin? Eine Diebin?«
Amber verlangsamte ihre Schritte. Auf einmal war es, als würde sie über rutschiges Geröll laufen, unsichere Stellen im Gebirge, an denen man jederzeit stolpern und in die Tiefe abgleiten konnte. Das war die erste wirkliche Frage an sie, Amber, die Sabin ihr stellte. Die Taucherin blieb stehen und wandte sich um. Nun standen sie sich gegenüber – Sabin vor dem Meer, Amber mit dem Rücken zur steinigen Insel. Amber sah dieses Bild für einen Augenblick mit den Augen eines Dritten – ein verdrehtes Spiegelbild. Aber wer von ihnen beiden war wirklich? Und wer nur ein verzerrtes, ins Gegenteil verkehrtes Bild?
»Nun?«, fragte Sabin ruhig. Amber begriff, dass sie an eine Weggabelung gekommen war. Ihr ganzer Weg seit der Nacht, in der sie geflohen war, führte zu diesem Punkt: Sie konnte nach rechts gehen und lügen. Oder sie ging nach links. Und stürzte vielleicht in die Tiefe. Und vielleicht auch nicht.
»Das Geld ist tatsächlich gestohlen«, begann sie zögernd. »Wenn du von den Gesetzen ausgehst. Doch mein Gesetz sagt mir, dass es mein Geld ist. Dafür habe ich gekämpft – und dabei fast mein Leben verloren.« Nun schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie drückte die beiden leeren
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