Die Sturmrufer
halten vermochte. Doch aufgeben konnte er nicht – jetzt nicht mehr. Wenn es stimmte, was Lemar in seinem Buch notiert hatte, dann würde Tanijen nie wieder eine solche Chance haben wie jetzt.
Er schloss die Augen und sah Bilder aufblitzen: Dantar würde wieder reich werden – ein sicherer Handelshafen, es würde Arbeit für alle geben und Häuser, die nicht unter Sturmfluten brachen. Und die Galgen – die Galgen würden endlich verschwinden. Er würde sich nicht zwischen seiner Vergangenheit und seiner Zukunft entscheiden müssen. Doch bis dahin musste er durchhalten und auf der Hut sein. Denn Inu beobachtete ihn. Er musste…
Das Rumpeln verwandelte sich in das verabredete Klopfzeichen. Sabin! Tanijens Magie entfloh wieder und ließ ihn leer und müde zurück. Stattdessen sprang ihn die Angst wieder an. Was, wenn er versagte? Am liebsten wäre er die Treppe hinuntergestürzt, hätte Sabin umarmt, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben und ihr alles erzählt. Die Last seiner Lügen wog mindestens ebenso schwer wie die Aufgabe, die er sich aufgeladen hatte.
Er sprang über die Spiegelscherben hinweg und stolperte zur Tür hinaus. Die andere, fremde Magie erwartete ihn, ein gefühltes Schimmern in der Luft, tausendmal stärker als seine eigene, ungeordnete Kraft. Die Magie der Burg war feinmaschig gewoben und so fest und klar wie ein Netz aus Seidenfäden. Schmerzlich erinnerte es ihn daran, was er noch nicht war.
Kurz darauf löste Tanijen mit zitternden Händen den Sicherungsknoten an der Saaltür. Im nächsten Augenblick hielt er eine nasse Sabin in den Armen.
»Wir sind in Gefahr!«, rief sie. »Es sind die Fische!«
Tanijen hörte die Worte, aber er nahm sie kaum wahr. Die seltsame Kraftlosigkeit übermannte ihn endgültig, schwer stützte er sich auf Sabins Schulter. Er wünschte sich nichts so sehr, als einfach die Augen zu schließen und sich auszuruhen. Doch dann drängten auch schon Inu und Amber in die Halle. Das Mädchen aus den Bergen war blass und erschien ihm heute mehr denn je wie eine Kriegerin. Ihre Augen funkelten, als sie mit einem entschiedenen Schlag die Tür ins Schloss warf. In diesem Augenblick beneidete er sie unendlich um ihre Kraft.
»Ich habe einen Schwarm gesehen«, sprach Sabin weiter. »Er erzeugt Strömungen und Wasserwirbel wie die Vögel Wind. Deshalb stranden die Schiffe! Und die Fische verwandeln sich – sie bekommen Flügel! Der Naj sagt…«
»Vorsicht, er fällt!«
Die Gesichter verschwammen vor Tanijens Augen, er spürte noch, wie Sabin und Inu ihn auffingen, dann war für einen Augenblick alles dunkel.
»Tanijen!« Inu klang so besorgt, dass es Tanijen die Kehle zuschnürte. Gerne hätte er sich entschuldigt, für den Streit, für jedes harte Wort, das er zu seinem Freund gesagt hatte. Aber es kostete ihn viel zu viel Kraft, die Magie nicht endgültig entkommen zu lassen. Wenn er sie jetzt losließ, würde er sie verlieren wie den Zipfel eines Tuchs, das der Wind davontragen wollte. Mühsam blinzelte er und blickte auf ein gespenstisches Doppelbild.
Lemar beugte sich über ihn. Durch seine halb durchsichtigen Züge schimmerte Inus besorgtes Gesicht. »Hörst du mich?«
Gleichzeitig mit Inus Worten hörte er auch jene von Lemar: »Ich muss es tun, Loin. Es ist unsere letzte Möglichkeit. Sie werden uns ohnehin töten. Lass uns wenigstens verhindern, dass Dantar untergeht.«
Sabins Gesicht verschmolz mit der Gestalt der rothaarigen Magierin zu einer beängstigenden Doppelgestalt.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Loin. »Nimm den Dolch und geh!«
»Tanijen!«, flüsterte Sabin gleichzeitig und strich ihm mit der Hand über die heiße Stirn. Und zu Lemar gewandt fügte sie hinzu: »Sein Fieber ist schlimmer geworden.«
Nur Amber war noch Amber. Sie beugte sich zu ihm, packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »He, Tanijen! Bist du noch da? Sag was!«
Die Bewegung fegte die Traumgestalten weg, als hätte jemand sie weggepustet.
»Alles in Ordnung«, stammelte er.
»Das glaube ich nicht, mein Freund«, zischte ihm Inu zu und ergriff ihn kurzerhand um die Taille. Tanijen ließ sich von ihm hochziehen und kam schwankend auf die Beine, krampfhaft darum bemüht, die Magie festzuhalten wie ein bockendes Pferd. Inu schleppte ihn zum Tisch und den Stühlen. Tanijen warf einen Blick zur Seite und betrachtete Inus Profil. Lange waren sie sich nicht mehr so nahe gewesen. Ihre Blicke begegneten sich und für einen irrwitzigen Augenblick hoffte er auf ein
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