Die Sturmrufer
heißer Schreck fuhr ihr durch die Brust. Menschliche Münder klafften in den vertrockneten Gesichtern. Sie erkannte Waranzähne, weißliche Augen und zerstörte Wangen. Die Wesen kauerten auf der Mauer der Burg, auf dem Balkon der Galerie und standen mitten im Hof. Bedrohliches Zischen hüllte sie ein.
»Beim grässlichen Kerot«, hörte sie Sabin neben sich voller Entsetzen flüstern. Amber dachte nicht nach, sie holte aus und kämpfte, während ihr Verstand nicht glaubte, was sie da sah.
*
Der Tümpel war an dieser Stelle hüfttief, Tanijen konnte mit den Zehen den schartigen Felsvorsprung spüren, den Lemar in seinem Studienbuch so akribisch eingezeichnet hatte. Das Becken hatte keine glatten Wände. Mehrere kantige Vorsprünge, auf denen früher die Muschelkörbe befestigt gewesen waren, setzten sich in die Tiefe fort. Nur in der Mitte gähnte der Abgrund. Doch Tanijen musste zum großen, rechteckigen Vorsprung, der tief unter ihm in das kalte Wasser ragte. Dafür musste er über den Abgrund schwimmen, der bis ins blaue Herz der Insel führte – so tief, dass nicht einmal Sabin den Grund erreichen würde. Ganz unten am Grund war das Becken dieses Teichs mit dem Meer verbunden: über dünne Kanäle, von Stabmuscheln gebohrt. Was auch immer in dieses Becken geriet – es konnte Meerwasser atmen und dennoch nicht ins Meer entfliehen. Ein besseres Gefängnis hätten die Magier nicht finden können. Tanijens Herz hämmerte in seinen Ohren. Ein Vogel streifte ihn schmerzhaft an der Schläfe. Ein zischender Laut erklang, dann tauchte etwas nicht weit von ihm in das Wasser ein. Es war ein Speer.
Tanijen drehte sich benommen um. Vor Überraschung klappte ihm der Kiefer nach unten.
Wie dumm waren sie gewesen zu glauben, dass einige Seile und Schlösser die Wächter aufhalten konnten?
Es waren acht. Ebenso viele Speerspitzen waren direkt auf ihn gerichtet. In diesem Schreckstarren ewigen Moment erschienen ihm die Wesen wie ein Spiegelzauber, der eine Szene aus längst vergangener Zeit wiederholte. Natürlich hatten die beiden Magier Lemar nicht selbst getötet, das hatten die Kreaturen für sie erledigt. Lemar hatte die Wesen beschrieben, anfangs voller Faszination, später dann voller Grauen und Angst. Tanijen hatte viel Zeit gebraucht, um die verwischten Buchstaben in Lemars Notizen zu entziffern und mit neuer Tinte wieder sichtbar zu machen. Das hier war das hässliche Gesicht der Magie. Die Fratze, von der Lemar sich abgewandt hatte. Kein Werk von fähigen Magiern, sondern das Spielzeug einer Magie, die alles Sterbliche verachtete. Lemar hatte das früher erkannt als die anderen. Und den letzten Teil von Lemars Geschichte konnte er sich denken: Der Magier mit der heiseren Stimme hatte ihm den Dolch aus der Hand geschlagen, bevor diese Wächter den Rest erledigten. Tanijen begriff, dass Lemar ebenfalls an dieser Stelle gestanden hatte, vor so langer Zeit, den Dolch in der Hand. Doch er, Tanijen, war zu blind gewesen, um zu erkennen, worum es Lemar le Hay wirklich gegangen war. Und nun war es zu spät. Er hatte versagt.
»Tanijen, raus aus dem Wasser! Lauf zur Halle!«, schrie ihm Sabin zu. Jetzt erst entdeckte er die beiden Frauen. Sie versuchten die Wesen zurückzutreiben, stachen und schlugen, um ihm den Weg zur Halle freizukämpfen. Für den Bruchteil eines Wimpernschlags – zwischen zwei Stößen mit der Harpune – sah Sabin ihm in die Augen. Tanijen schnürte es die Kehle zu. Noch nie hatte er sie so sehr geliebt wie in diesem Augenblick. Erinnerungslichter blitzten auf und verloschen wieder. Er sah Sabin in Dantar, an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal geküsst hatte. In seiner Erinnerung war jedes Detail wieder da: Sabin, wie sie mit ihm in dem Boot saß, während Satu noch nach Muscheln tauchte. Ihre Lippen schimmerten bläulich, weil sie wie immer viel zu lange im kühlen Grundwasser geblieben war, als fiele es ihr schwer, sich von ihrem wahren Element zu lösen. Das Muschelmesser in seiner Hand, mit dem er eine der grünen Sichelmuscheln öffnete. Damals hatte er eine Perle darin gefunden, länglich und krumm wie ein Katzenzahn. Er hatte sie ins Wasser geworfen, doch Sabin war zu seiner Überraschung ins Meer gesprungen und hatte das Stück Perlmutt wieder aus der Tiefe geholt.
»Was willst du mit einer wertlosen Perle?«, hatte Tanijen gefragt.
Und Sabin, die in solchen Augenblicken mehr einem Naj als einem Menschen glich, hatte erstaunt die Augenbrauen hochgezogen und geantwortet:
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