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Die Sturmrufer

Die Sturmrufer

Titel: Die Sturmrufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: blazon
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»Wie kannst du das Vollkommene sehen, wenn du das Unvollkommene nicht liebst?«
    Er sah sie vor sich: das nasse Haar glänzend von der Nachmittagssonne, die Perle fest in der Faust.
    Und er musste die Augen schließen – nicht weil zwei Speere direkt auf ihn zuschwirrten, sondern weil er dieses letzte Bild festhalten wollte. Du hast den unvollkommensten Menschen geliebt, Sabin, dachte er.
    Seltsamerweise war der Schmerz nicht so schlimm wie sein Bedauern. Der Schlag warf ihn rücklings in das eisige Nass. Verwundert blickte er auf das Bild eines Himmels, der hinter einer Wand aus Wasser waberte.
    »Sabin«, flüsterte er in einem Wirbel von Luftblasen. Dann erlosch auch dieser Gedanke.
     
    *
     
    Sie waren menschlich – und doch wie Tiere. Amber sah Klauen und Hände, vertrocknete Haut und Schuppen, Federn und Flughäute, die wie Mäntel waren. Sie erkannte die Züge eines Menschen, der mit einem Waran verschmolzen schien, als hätte ein verrückter Gott zwei Wesen gewaltsam in einen Körper gezwängt. Immerhin konnte sie eine Schwäche ausmachen: Sie waren stark, aber alles andere als schnell.
    »Tanijen!« Sabins Entsetzensschrei fuhr ihr durch Mark und Bein. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, was passiert war. Auch sie hatte die Speere gesehen und den dumpfen Laut gehört. Und als sie jetzt einen schnellen Seitenblick zum Tümpel warf, wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Tanijen war von zwei Speeren mitten in die Brust getroffen worden. Mit offenen Augen, aus denen das Leben wich, fiel er in das blutige Wasser. Sie haben ihn getötet!, gellte es in ihrem Kopf. Die Härchen an ihrem Nacken sträubten sich vor Entsetzen und dennoch funktionierte ihr Körper weiter, stach und schlug, wich aus und sprang wieder vor.
    Vier der Kreaturen bedrängten sie, schnappten nach ihrem Stock, stachen mit den Speeren nach ihr, als wollten sie sie zurücktreiben.
    Wenn wir nicht fliehen, töten sie uns auch.
    Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Sabin zögerte. Sie würde doch nicht etwa zum Tümpel rennen? Mit einem Satz wirbelte Amber herum und brachte zwei der Ungeheuer zu Fall. Schon hatte sie Sabin an der Schulter gepackt und zog sie grob zurück. Fischhaut riss unter ihren Fingern.
    »In die Halle!«, brüllte sie.
    »Nein, Tanijen ist im Wasser!«, keuchte Sabin.
    »Tanijen ist tot!«
    Ein scharfer Schmerz fuhr durch ihr Bein, sie trat nach dem verletzten Ungeheuer, das sich am Boden wand, und erwischte es mit der Ferse am Kiefer. Es gab einen schrillen Laut von sich. Sabin riss die Harpune hoch und trieb einen anderen Angreifer zurück. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie verbissen kämpfte.
    »Vorsicht, Amber, duck dich!« Das war Inus Stimme. Im selben Augenblick flog ein Stuhl direkt an Amber vorbei und fällte zwei der Kreaturen. Amber packte Sabin und stieß sie auf die Tür zu. Und endlich, endlich gab Sabin nach. Dann waren sie bereits in der Halle und rannten zu dritt die Treppe zum Turm hinauf. Der Schmerz in Ambers Knöchel schien das einzig Wirkliche zu sein.
    Tanijen ist tot , hallten ihre eigenen Worte in ihrem Kopf wider. Tränen schossen ihr in die Augen. Unten ertönte ein Krachen und das Trappeln von Füßen, die sie verfolgten. Ein Speer flog knapp an Ambers Kopf vorbei und schlug eine kleine Steinlawine aus der Wand.
    Sie duckte sich. Die Tür zum Turmzimmer kam immer näher, ohne dass sie wirklich spürte, wie sie die Treppe hochrannte. Inu stieß die Tür auf.
    Was hat es für einen Sinn?, fragte sich Amber.
    Das Turmzimmer war dunkel, die Fensterläden verschlossen. Inu löste den Knoten am Riegel so schnell, dass Amber ihm mit den Augen nicht folgen konnte, und klappte die Läden auf. Es war beinahe zum Lachen: Selbst jetzt dachte er nicht daran, ein Seil zu beschädigen.
    Das gleißende Licht blendete sie. Der Himmel war immer noch regengrau, die Vögel umrundeten aufgeregt den Turm, schossen wie helle Blitze durch die Luft und ließen den Wind wirbeln.
    Sabins Augen glühten wie blaue Flammen, Entsetzen und Schmerz zeichneten sich darin ab.
    Ein schwerer Körper warf sich gegen die Tür. Blitzartig ging Amber alle Möglichkeiten durch. Es war wie in den Bergen – die Martiskatze stand vor ihr, sie hatte nur einen Augenblick Zeit, um die richtige Strategie zu finden. Sie nahm ihren Stock und kletterte auf das Fensterbrett. Das war ihre einzige Möglichkeit: Die Wesen von oben anzuspringen und zu Fall zu bringen. Und zur Not konnte sie sie wieder auf das Dach locken.

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