Die Sturmrufer
er weiter auf den Tümpel zu und tastete nach dem kurzen Messer an seinem Gürtel. Er hatte nicht versagt, nein. Nur einen Fehler gemacht: Dass er zu lange gesucht hatte. Zu viel Kraft verschwendet, zu viel Zeit.
»Lemar! Der Dolch!«
»Ich habe ihn nicht, Loin«, murmelte er. »Dieses Messer hier muss genügen.«
Hinter sich hörte er Ambers Stimme und dann auch Sabin, die ihn zurückrief, aber er drehte sich nicht um. Ein Donnergrollen umgab ihn, die Wolken am Himmel waren so dunkel wie gewaltige Schiffe, die sich in einem Meer aus Regen drängten. Wasser füllte die Ritzen zwischen den Steinen und verwischte die Grenze zwischen dem Tümpel und dem Hof. Die Vögel schlugen aufgeregt mit den Flügeln, bogen die Hälse nach hinten und rissen die Schnäbel auf. Tanijen atmete tief durch und konzentrierte sich nur noch auf den Tümpel. Das schwarze Wasser bebte leicht, als er mit dem Fuß die Wasseroberfläche berührte. Eine Bö fegte ihm einen Tropfenschauer entgegen. Das Wasser des Tümpels war erstaunlich kalt, viel kälter als das Meer. Tanijen schloss die Augen und rief sich Lemars Skizze ins Gedächtnis. Felswände aus Eisgranit, die das Wasser kühl hielten. Ein Vorsprung, die Kuhle, die Eisenhaken, die zusätzlich zu den vorhandenen in die Wände geschlagen worden waren. Und er erinnerte sich an alle Lektionen, die er als Taucher gelernt hatte – vor langer Zeit, in einem anderen Leben. In seinem Leben mit Sabin. Er würde tief tauchen müssen.
»Tanijen!«
Er holte Luft und zückte das Messer.
*
Hinter Vorhängen aus Regenschleiern erkannte Amber nur schemenhaft Tanijens Gestalt. Er schwankte auf den Tümpel zu. Dann brach der Wall endgültig. Das Flüstern stürzte über sie herein wie ein Wasserfall. Ambers Haare sträubten sich, ihr ganzer Nacken war eine kribbelnde Fläche. Tanijens Magie schützte sie nicht mehr! Die Vögel begannen mit den Flügeln zu schlagen. Hinter ihr fegte Wind durch den Saal, wirbelte Papier hoch, warf Stühle um und ließ Truhendeckel klappern. Amber stolperte, verlor das Gleichgewicht und prallte gegen Inu. Alles war entfesselt, Gestalten leuchteten auf wie Traumbilder: ein junger, hagerer Mann, der einen roten Dolch unter seinem Mantel hervorzog. Zwei weitere Männer, in deren Fäusten Messer blitzten. Und die rothaarige Frau – eine stumme Erscheinung, deren Verzweiflung dennoch spürbar war.
Tanijen stand am Rand des Tümpels, die Vögel umflatterten ihn aufgeregt. Von hier aus gesehen war der Hof eine einzige Fläche aus peitschendem Wasser.
Er wird in das Wasser gehen, schoss es Amber durch den Kopf. Grimmig presste sie die Lippen zusammen. Nicht, wenn sie es verhindern konnte! Tanijen mochte ein Lügner und Magier sein. Aber er war es gewesen, der ihr die Hand gereicht hatte. Und waren sie selbst denn einen Deut besser? Inu sprach von Seilen, die man nicht durchschlug, und ließ seinen Freund dann allein in die Gefahr gehen. Sabin konnte nicht verzeihen – und Amber war eine Diebin.
Sie stolperte zu einer Kiste und fand den langen Stock, den sie dort abgelegt hatte.
Inu wich zurück. Mit zitternder Hand zeigte er auf eine verwischte Gestalt aus wirbelndem Nebel.
»Amber«, flüsterte er. »Die Erhängten…«
Sabin war totenblass. Inmitten der Gespenster stolperte sie rückwärts zur Wand und starrte auf dieselbe Stelle wie Inu. »Satu! Aber du… du bist tot!«, stammelte sie.
Amber fluchte und kämpfte sich zur Tür vor.
Vögel flatterten in den Saal und brachten Wind und Regen mit sich. Für einen Augenblick lichtete sich der Schleier aus Regen und wirbelndem Wasser und Amber sah wieder Tanijen. Er stand bis zur Taille im Tümpel, die Arme erhoben, als wollte er sich ergeben.
»Hör auf zu heulen, Sabin!«, schrie sie. »Das ist nur Magie! Nur eine Täuschung! Wir müssen Tanijen holen!«
Sein Name riss die Taucherin aus ihrer Erstarrung. Blitzschnell griff sie nach ihrer Harpune. Amber liebte sie in diesem Augenblick dafür, dass sie über ihren Schatten sprang. Vor allem aber dafür, dass ihr Tanijens Leben trotz allem wichtiger war als seine Lüge. Gemeinsam stürzten sie auf die Tür zu.
Sie hörte Sabins warnenden Ruf und spürte bereits den Regen im Gesicht, als ihr Fuß sich in etwas Weichem verhedderte. Sie verlor das Gleichgewicht und konnte den Sturz im letzten Augenblick noch in einem ungelenken Sprung abfangen.
Auf der Schwelle lag etwas Dunkles, über das sie gestolpert war. Es fauchte sie an und sprang auf die Beine. Ein
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