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Die Sturmrufer

Die Sturmrufer

Titel: Die Sturmrufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: blazon
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zwischen all den Schatten stand Inu, blass, aufrecht, ein Richter mit kühlem Blick. Seine Hand lag auf dem Tuch, dort, wo er vermutlich ein Messer oder einen Haken verwahrte.
    »Was ist hier geschehen?«, fragte er nun. »Tanijen, was ging in dieser Burg vor?«
    Tanijen lächelte verzweifelt. Amber schnitt der Anblick ins Herz. Er war ein Fremder, ein Magier – und gleichzeitig war er immer noch Tanijen. Sein helles Haar hing ihm wirr in die Stirn, in seinem bleichen Gesicht glühten die braunen Augen wie dunkle Monde. Und Amber begriff in diesem Augenblick zum ersten Mal, was der Kodex der Seiler bedeutete. Alles war verbunden. Trotz ihrer Angst vor der Magie trat sie zu Tanijen und schloss ihre Finger fest um seine Hand.
    »Seid ihr wahnsinnig geworden? Das ist Tanijen«, sagte sie mit großer Bestimmtheit. »Euer Freund. Und auch meiner! Ein Mensch, ob er nun ein Magier ist oder nicht! Wir gehören zusammen.«
    Tanijen erwiderte ihren Händedruck, doch er sah sie nicht an.
    »Du hattest immer recht, Inu«, sagte er. »Ich bin kein guter Navigator. Nicht einmal ein besonders guter Taucher. Aber ich bin… immerhin ein Magier. Was weißt du schon darüber? Was weiß Dantar darüber? Ihr habt nichts Besseres zu tun, als uns selbstgerecht anzuklagen. Solange ihr einen Galgen findet, an dem ihr Menschen aufhängen könnt, müsst ihr nichts verändern. Solange Tausende von Menschen in Dantar ertrinken, ist alles in Ordnung, Hauptsache, ihr findet einen Schuldigen. Solange es Leute wie dich gibt, Inu, wird sich nichts ändern. Du knüpfst deine Seile auf die gleiche Weise, wie es schon deine Vorfahren taten. Du wirst nur mit einer Seilerin eine Familie gründen, weil es dir verboten ist, deine Liebe selbst zu wählen. Dich hinter Regeln verstecken: Das ist das Einzige, was du kannst, und nie wird sich etwas ändern. Du wirst nie ein anderes Leben leben als deine Vorfahren, denn alles ist vorherbestimmt, Knoten für Knoten. Und du verachtest mich dafür, dass ich anders bin. Wer ist hier der Lügner, Seiler? Euer Kodex sagt, dass alles verbunden ist. Doch sobald jemand schuldig sein muss, knüpft ihr ihm einfach das Seil um den Hals. Ein schönes Geschäft, Inu.«
    Er holte tief Luft. Seine Stimme wurde leiser, während etwas anderes im Raum anschwoll und spürbar stärker wurde, als würde es Tanijens Kraft rauben. »Aber ich habe die Möglichkeit, das alles zu beenden. Zwei der Magier suchten Rache und zwei von ihnen Macht. Ich aber werde es beenden: die Stürme, die Galgen… ich werde all das beenden!«
    Sein Blick flackerte, während er erst Inu musterte, der blass geworden war, dann Sabin und schließlich Amber.
    Er sieht gar nicht uns, dachte Amber wie betäubt. Doch was sieht er dann?
    »Ich… bringe es in Ordnung, Loin«, keuchte er.
    Draußen flatterten einige Vögel auf. Der Regen wurde noch stärker, Wasser rann über die Türschwelle ins Innere der Halle und suchte sich den Weg zwischen den quadratischen Bodenfliesen. Tanijen ließ Ambers Hand los und stolperte nach draußen.
     
    *
     
    Niemand hielt ihn zurück. Natürlich nicht. Am allerwenigsten Inu. Die Erkenntnis, dass sein Freund ihm niemals verziehen hatte, schmerzte. Das Alte lässt sich nie mit dem Neuen vereinen – dieser Satz hallte in seinem Kopf wie ein höhnisches Echo. Noch nie hatte eine Wahrheit so bitter geklungen. Manchmal, in Momenten des Zweifels, in denen er erkannte, dass er zu schwach und unerfahren für diese Magie war, hatte er geahnt, dass er Sabin verlieren würde, dennoch begriff er es erst in diesem Augenblick. Tanijen zog die Schultern hoch und blickte sich nicht um. Nichts wäre schlimmer, als Sabin anzusehen. Der Schmerz, ihre Enttäuschung zu spüren, genügte für zwei Leben.
    Der kalte Regen brachte ihn wieder zur Besinnung, die Gesichter von Loin, Lemar und den anderen verschwammen vor ihm und lösten sich auf. Zurück blieben das ganze Elend und die Schwäche, die ihn lähmte wie der Frost eine Echse. Längst waren ihm die Bannkreise entglitten, er spürte den Toten nicht mehr und war nicht mehr fähig, die Schatten in ihre Winkel zu schicken.
    Er konnte die Magie sehen: Dunkelheit, die sich vor ihm ballte, ausstrahlte und sich wieder pulsierend zusammenzog. Ein gewaltiges Pferd, das er nicht länger zähmen konnte. Er hatte keine Wahl mehr. Tanijen öffnete die Hände und ließ die Magie los. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem er Lemars Spuren aufgenommen hatte, konnte er wieder leichter atmen. Entschlossen schritt

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