Die Sturmrufer
Kein besonders guter Plan, aber besser als nichts.
Die Tür erzitterte wieder. Sabin drehte sich um und blickte zu Amber hoch. Und Amber erkannte einen Moment zu spät, dass auch die Taucherin gerade ihre Strategie gefunden hatte.
»Wir schwimmen!«, bestimmte sie und versetzte Amber einen kräftigen Stoß.
*
Im Bruchteil eines Augenblicks sah Amber sich selbst am Ende einer Kette aus fatalen Entscheidungen. Und jede einzelne kam ihr falsch vor. Der Diebstahl – die Flucht – Sumal Bajis Auftrag – das Meer – das Turmzimmer.
Es war unwirklich zu fallen. Der Turm entfernte sich blitzschnell, als würde ihn jemand von Amber fortziehen. Über ihr sprang eine Gestalt aus dem Fenster. Das blonde Haar wehte vor dem grauen Himmel. Und noch eine Gestalt – Inu. Dann trudelte sie. Der Himmel umkreiste sie, das Meer stand Kopf. Der Sog riss ihr die Luft zum Atmen aus Mund und Nase. Sie konnte Schaumkronen erkennen, die immer näher kamen. Amber stieß einen erstickten Schrei aus, krümmte sich zusammen, als wollte sie ganz in sich verschwinden, kleiner und kleiner werden, und schloss die Augen ganz fest.
Der Aufprall verwandelte ihren ganzen Körper in eine einzige brennende Fläche. Für einen Augenblick entglitt ihr die Wirklichkeit. Als sie wieder zu sich kam, schloss das Wasser sie ein. Innerhalb eines Augenblicks verschwand die Welt, die Geräusche waren weg. Salz brannte höllisch in ihren Augen. Ein verschwommener Felsen sauste in einem Strudel von Luftbläschen direkt vor ihr nach oben. Stechender Schmerz pochte in ihren Ohren. Amber strampelte und paddelte verzweifelt und sank immer tiefer nach unten. Unter ihr streckten sich ihr rote Finger entgegen, bereit, sie endgültig auf den Grund zu ziehen. Über ihr schwankte eine glänzende Haut, die sich immer weiter entfernte. Der Druck in ihren Ohren wurde schlimmer, bis ihr Kopf sich anfühlte, als würde eine riesige Hand ihn umfassen und gnadenlos zusammendrücken. Die Panik nahm ihr die Sicht. Verzweiflung jagte ihr heiße Schauer über die Haut. Ganz von selbst reagierte ihr Körper, trat nach dem Wasser und sank doch immer weiter. Aus dem Augenwinkel sah sie das Blitzen von Münzen, die noch schneller sanken als sie. Der Beutel war aufgegangen! Bilder stiegen auf wie Luftblasen: ihre Mutter, kurz bevor sie gestorben war, das Haus am Berghang und die Ziegen. Der brennende Stall. Jeder Herzschlag schmerzte.
Du gibst wohl nie auf! Sabins Stimme hallte in ihrem Kopf wie ein höhnisches Echo.
Sie hatte verloren. Gleich würde sie ohnmächtig werden und ertrinken. Wie Satu. Bitte, flehte sie die Geister der Bergseen an. Lasst es wenigstens nicht wehtun.
Ein Aufprall drückte die Luft aus ihren Lungen – die wertvolle Luft! Jemand umklammerte sie. Amber wehrte sich und schlug um sich. Erst als sie die Augen aufriss und helles Haar über ihre Wange streichen fühlte, begriff sie. Sabin! Mit aller Kraft klammerte sie sich an die Taucherin, und Sabin wehrte sich nicht, im Gegenteil, sie schlang ihre Arme um Ambers Kopf und – küsste sie!
Amber war so verblüfft, dass sie instinktiv nach Luft schnappte. Luft strömte in ihre Lungen, dann wurde ihr schwindlig und die Wirklichkeit entglitt ihr wie ein Seil, das sie nun endgültig losließ.
*
Es war mühsam, die Augen zu öffnen. Und das Husten tat höllisch weh. Amber brauchte eine Weile, um die Welt um sich herum zu ordnen. Da war kein Wasser mehr. Nur Himmel und grelle Mittagssonne. Und – Wind! Amber blinzelte.
Der Strand war weit entfernt – das ausgebrannte Wrack der Timadar lag dort wie ein verendetes Tier. Schwebten sie mitten im Meer?
Aber ich bin doch nicht tot, war ihr erster Gedanke. Und ihr zweiter, wider alle Vernunft: Das Geld ist versunken. Spitze Napfmuscheln drückten unangenehm in ihre Schulterblätter. Vorsichtig bewegte sie den Kopf. Ihr Hals fühlte sich an, als würden verrostete Scharniere sich unter ihrer Haut verschieben. Nicht weit entfernt von ihr kauerte Inu am Rand des flachen Felsens. Seine Augen waren rot vom Weinen, er sah so erschrocken aus, dass er viel jünger wirkte. »Das wollte ich nicht«, flüsterte er. »Ich wusste doch nicht… ich wollte nicht, dass Tanijen…« Dann brach er in Tränen aus.
Jetzt erst kam der Schock, Amber fror plötzlich, ihre Zähne klapperten. Sabins nasskalte Locken streiften ihr Gesicht.
»Amber!«, flüsterte sie. »Um Skiggas willen! Du kannst nicht schwimmen!«
Amber wollte zu Inu stürzen und ihn umarmen, zumindest
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