Die Sünde der Brüder
Schreibtisch und das Durcheinander darauf. Zwei scharfe Augenpaare richteten sich auf ihn. Sie würden es merken. Grey hustete.
»Ja. In diesem Fall -« Er verstummte. Er hatte fragen wollen, wer sich im Lauf des Tages in der Amtsstube aufgehalten hatte, begriff aber sofort, wie problematisch diese Frage war. Die Amtsstube hatte täglich Dutzende von Besuchern: Schreiber, Händler, Offiziere, Boten des Hofes, Kanoniere, Waffenschmiede … Einmal hatte er bei seiner Ankunft einen Mann vorgefunden, der einen Tanzbären an einer Kette und einen Affen auf der Schulter sitzen hatte und hier war, um seine Bezahlung für die Unterhaltung der Truppen am Geburtstag der Königin einzufordern.
Dennoch musste man es zumindest versuchen.
»Wie lange warst du schon hier, bevor ich gekommen bin?«, fragte er. Hal rieb sich das Gesicht.
»Ich bin kurz vor dir eingetroffen. Sonst hätte ich es sofort gesehen.«
»Sollten wir vielleicht die Wache an der Pforte und die Männer im Inneren des Gebäudes zusammenrufen?«, schlug Grey vor. »Um sie zu fragen, wer die Amtsstube betreten haben könnte, während sie unbesetzt war?«
Hal presste die Lippen aufeinander. Er hatte die Beherrschung zurückerlangt; Grey konnte sehen, dass sein Verstand wieder arbeitete, und zwar mit großer Geschwindigkeit.
»Nein«, sagte er und ließ bewusst die Schultern fallen. »Nein, es ist nicht wichtig.« Er zerknüllte das Blatt Papier und warf es scheinbar beiläufig ins Feuer. »Das ist alles, Mr. Beasley.«
Mr. Beasley verbeugte sich und verließ das Zimmer. Das Papier glühte auf und ging in Flammen auf. Greys Hände ballten
sich unwillkürlich zu Fäusten und hätten es gern vor der Vernichtung bewahrt, doch es war zu spät - eine Sekunde noch zeichnete sich die Tinte deutlich auf dem verkohlten Papier ab, dann zerfiel es zu Asche. Das unerwartete Gefühl des Verlustes ließ seinen Tonfall schärfer ausfallen als gewohnt.
»Warum hast du das getan?«
»Das spielt keine Rolle.« Hal blickte zur Tür, um sicherzugehen, dass Beasley außer Hörweite war, dann ergriff er das Schüreisen und stieß es ins Feuer, sodass die Funken wie ein feuriger Bienenschwarm in den Kamin aufstoben und er sicher sein konnte, dass nicht die geringste Spur des Blattes übrig blieb. »Vergiss es.«
»Ich habe nicht vor, es zu vergessen. Was meinst du damit, ›er hat es verbrannt‹?«
Hal stellte das Schüreisen mit sorgsamen, präzisen Bewegungen wieder in seinen Halter zurück.
»Das war kein Vorschlag«, sagte er leise. »Es war ein Befehl … Major.«
Grey biss die Zähne zusammen.
»Ich ziehe es vor, diesen Befehl nicht zu befolgen - Sir.«
Hal drehte sich verblüfft um.
»Was zum Teufel soll das heißen, du ziehst es vor …«
»Es heißt, ich vergesse es nicht«, herrschte Grey ihn an, »und das weißt du ganz genau. Was willst du denn dagegen tun? Mich in Eisen legen? Mich eine Woche bei Brot und Wasser wegsperren?«
»Führe mich ja nicht in Versuchung.« Hal funkelte ihn an, doch es war ihnen beiden klar, dass er sich geschlagen gab. Zumindest teilweise.
»Sprich wenigstens leise.« Hal trat zur Tür, blickte in den Flur hinaus, schloss sie aber nicht. Das war ja interessant, dachte Grey. Glaubte Hal etwa, dass Mr. Beasley sich außen an die Tür schleichen würde, um zu lauschen, wenn sie geschlossen war?
»Ja, es war eine Seite aus einem der Tagebücher«, sagte Hal sehr leise. »Dem letzten.«
Grey nickte kurz; das Datum auf der Seite war zwei Wochen vor dem Todestag ihres Vaters gewesen. Der Herzog hatte gewissenhaft Tagebuch geführt; in der Bibliothek des Hauses an der Jermyn Street gab es ein kleines Bücherregal, das reihenweise mit seinen Tagebüchern gefüllt war, die er über dreißig Jahre lang geführt hatte. Grey war mit ihrem Inhalt vertraut, und er war seinem Vater dankbar, dass er sie geführt hatte. Sie hatten es ihm ermöglicht, zumindest ein wenig darüber zu erfahren, was für ein Mann sein Vater gewesen war, als er selbst das Mannesalter erreichte. Das letzte Tagebuch in dem Regal endete drei Monate vor dem Tod des Herzogs; es musste noch ein weiterer Band existiert haben, doch Grey hatte ihn nie zu Gesicht bekommen.
»Mutter hat dir gesagt, Vater hätte es verbrannt? Hat sie gesagt, warum?«
»Nein, das hat sie nicht«, sagte Hal knapp. »Unter den gegebenen Umständen habe ich auch nicht danach gefragt.«
Hal beobachtete immer noch die offene Tür. Grey konnte nicht sagen, ob er einfach nur wachsam war oder ob er
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