Die Sünde der Brüder
unterwegs unterhalten.«
Grey schob die Arme in seinen Uniformmantel, und im nächsten Moment waren sie auf die Straße geflüchtet, nachdem
Hal Mr. Beasley instruiert hatte, Oberst Symington mitzuteilen, dass Lord Melton nach Bath gereist sei.
»Bath?«, fragte Grey, als sie das Gebäude verließen. »Um diese Jahreszeit?« Es war nicht später als halb drei, und doch begann es schon zu dämmern. Das Straßenpflaster war von der Feuchtigkeit dunkel gefärbt, und der kommende Schnee hing spürbar in der Luft.
Hal entließ seine wartende Kutsche mit einer Handbewegung und bog um die Ecke.
»Wenn wir ein näher gelegenes Ziel wählen würden, würde er mir dorthin folgen. Man kann über den Mann sagen, was man will, aber er ist verdammt hartnäckig.« Im Tonfall dieser Worte lag widerwilliger Respekt; seine Hartnäckigkeit war Symingtons wichtigste militärische Tugend, und sie war nicht zu unterschätzen. Im zivilen Leben war sie jedoch ein wenig nervenaufreibend.
»Was will er denn von dir?«
Grey stellte diese Frage nur, um das eigentliche Gespräch aufzuschieben, und es überraschte ihn nicht, dass Hal nur mit einem mürrischen Achselzucken antwortete. Sein Bruder schien auch nicht sehr darauf zu brennen, das Gespräch erneut aufzunehmen, und sie schritten etwa eine halbe Meile weit schweigend nebeneinander her, ein jeder allein mit seinen Gedanken.
In Greys Kopf herrschte ein Wirrwarr, der von der Vorfreude und Neugier bei dem Gedanken an Percy Wainwright bis hin zur Besorgnis angesichts der offensichtlichen Bestürzung seines Bruders reichte. Über allem jedoch lag das Bild der Tagebuchseite, die er so kurz in der Hand gehalten hatte.
Er verdrängte jeden anderen Gedanken aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf diese Erinnerung, darauf, die Worte, die er gelesen hatte, auswendig zu lernen. Immer noch spürte er den Schock, den er empfunden hatte, als Hal das Blatt ins Feuer geworfen hatte, und er konnte die Vorstellung kaum ertragen, dass diese Worte seines Vaters, so belanglos sie auch gewesen sein mochten, für ihn verloren waren. Die Tagebücher des Herzogs waren kein Geheimnis, und doch hatte er sie im
Geheimen gelesen, sie einzeln aus dem Regal geholt und in sein Zimmer geschmuggelt, bevor er sie wieder ins Regal zurückstellte, stets achtsam, dass es niemand sah.
Er hätte nicht sagen können, warum es ihm derart wichtig erschienen war, diese Beziehung mit seinem verstorbenen Vater für sich zu behalten. Doch es war so gewesen.
Gerade war es ihm mehr oder minder gelungen, sich zumindest den Inhalt der verschwundenen Seite ins Gedächtnis zu prägen, als Hal schließlich die Schultern hochzog und abrupt zu sprechen begann.
»Es gibt Gerede. Über Verschwörungen.«
»Wann gibt es solches Gerede nicht? Welche Verschwörung beunruhigt dich denn besonders?«
»Mich eigentlich weniger.« Hal setzte sich den Hut fester auf und drehte den Kopf in den Wind. »Und noch ist es kein offener Skandal, obwohl der mit großer Sicherheit kommt - und zwar bald.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, merkte Grey beißend an. »Wir hatten schon seit Weihnachten keinen anständigen Skandal mehr. Wer ist darin verwickelt?«
»Eine sodomitische Verschwörung zur Unterminierung der Regierung durch die Ermordung ausgewählter Minister.«
Grey spürte, wie sich sein Magen verkrampfte, doch sein Tonfall blieb beiläufig. Es war nicht das erste Mal, dass er von so etwas hörte; sodomitische Verbindungen und Verschwörungen waren in der Saure-Gurken-Zeit das Allheilmittel der Straßenschreier und der Schreiberlinge von der Fleet Street.
»Und warum beunruhigt dich das?«
Hal richtete den Blick auf die rutschigen Pflastersteine.
»Uns. Es hängt mit einem älteren Gerücht zusammen. Über - über Vater.« Das Wort traf Grey in die Magengrube wie ein Kieselstein, der aus einer Schleuder abgeschossen wird. Er konnte sich nicht erinnern, nur ein einziges Mal gehört zu haben, wie Hal in den letzten fünfzehn Jahren das Wort »Vater« benutzte.
»Dass er Sodomit war?«, sagte Grey ungläubig. Hal holte tief Luft, doch seine Anspannung schien ein wenig nachzulassen.
»Nein. Zumindest nicht ausdrücklich. Und es ist - Gott sei Dank - kein weit verbreitetes Gerücht gewesen. Nur vage Anschuldigungen, die um die Zeit seines Todes von Mitgliedern des Bundes ausgesprochen wurden. Solche Anschuldigungen waren ja damals an der Tagesordnung und wurden über so gut wie jeden irgendwie prominenten Mann verbreitet, der etwas mit
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