Die Sünde der Brüder
Familie - so etwas widerfährt.« Er holte Luft und umklammerte hilfesuchend sein Glas. »Und so habe ich ihn aus dem Gefängnis geholt, in dem man ihn untergebracht hatte, und habe gesagt, ich würde ihn in seinen Heimatort bringen. Unterwegs ist uns eine Kompanie französischer Furiere begegnet - ich wusste, wo sie sich aufhielten; meine Kundschafter hatten es mir gesagt. Es gab ein Scharmützel; ich hatte Michael seine Pistole und sein Schwert zurückgegeben und ihm befohlen, mit seinen Männern über den Feind herzufallen.«
Stephan verstummte, und ihm war anzusehen, wie er das Ereignis noch einmal durchlebte.
»Glaubt Ihr, er hat es gewusst?«, fragte Grey leise. »Was Ihr vorhattet?«
Stephan nickte langsam.
»Er wusste, dass er sterben musste. Ich habe gesehen, wie sich der Gedanke unterwegs als Funke in ihm entzündete. Er
hat ihn sofort akzeptiert und weiter angefacht. Ich habe gesehen, wie er ganz davon ergriffen wurde. Ihr kennt doch … diesen Moment, in dem ein Mann alles fahren lässt und ihm nur noch der Kriegswahn bleibt?«
Er fuhr fort, ohne Greys Kopfnicken abzuwarten.
»Die Männer wussten es auch. Sie hatten ihn die ganze Zeit mit Verachtung gestraft, doch auf seinen Befehl haben sie sich sofort hinter ihn gestellt, die Loyalität in Person. Michael war immer ein guter Soldat gewesen - sehr tapfer. Aber das … er hat sein Schwert gehoben, sich in die Steigbügel gestellt und ist mit Gebrüll auf die Franzosen zugestürmt, gefolgt von seinen Männern. Noch nie habe ich solchen Kampfgeist, solchen Mut gesehen, und ich habe wirklich schon viel gesehen. Er war … ein Prachtkerl«, schloss er so leise, dass Grey das letzte Wort kaum hören konnte.
Ein Prachtkerl. Und in der Intimität, die sich einstellt, wenn man gemeinsam trinkt, hatte Grey das Gefühl, den Mann für einen Moment mit Stephans Augen zu sehen, zu sehen, wie er sich glorreich in die Arme der Vernichtung stürzte, als Krieger endete - und darüber hinaus Stephans persönliche Wahrnehmung seiner Schönheit als Mann, die so sterblich und flüchtig war.
Dies versetzte ihm einen Stich, und die bohrende Spitze seiner Eifersucht wich diesem letzten Bild dieses Jungen, dieses Weber, dessen Gesicht eines gefallenen Engels er selbst nur kurz gesehen hatte und der Stephans Geschenk eines ehrenvollen Todes dankbar angenommen hatte.
Von Namtzen ließ sein Brandyglas los und beugte sich schwerfällig vor, um den Hund zu streicheln, der aus tiefer Kehle aufstöhnte und seinem Herrn die Hand leckte.
»Aber er wurde nicht getötet«, sagte er trostlos, den blonden Schopf tief über den Hund gebeugt. »Nicht einmal verletzt.«
Dann hob er den Kopf, ohne Grey jedoch anzusehen; sein Blick war auf die Chrysanthemen gerichtet, die im zunehmenden Dämmerlicht des abendlichen Zimmers die Farbe getrockneten Blutes angenommen hatten.
»Er hat seine Männer beispielhaft angeführt, hat eigenhändig drei Franzosen getötet und den Rest in die Flucht geschlagen. Seine Männer machten sich an die Verfolgung, und einen Moment lang stand er dann ganz allein am Rand des Waldes. Und dann… hat er sich umgewandt und mich angesehen.«
Mit einem Ausdruck solchen Grauens, solcher Verzweiflung, dass von Namtzen nach seiner eigenen Pistole gegriffen und sein Pferd beinahe reflexartig auf Michael zugetrieben hatte, so groß war seine Not, diesen wortlosen Schrei zu beantworten.
»Ich bin ganz dicht an ihm vorübergeritten und habe ihn ins Herz geschossen. Niemand hat es gesehen. Ich bin abgestiegen und habe ihn in die Arme genommen; seine Kleider waren feucht, seine Haut noch warm vom Kampf.«
Stephan schloss die Augen. Er stieß einen Seufzer aus, der aus dem Inneren seiner Knochen zu kommen schien, und dann schien alle Luft aus ihm zu entweichen, und seine kräftige Gestalt sank in sich zusammen.
»Danach habe ich ihn mir über den Sattel gelegt und ihn zu seiner Mutter heimgebracht«, sagte er ausdruckslos. »Einen toten Helden, den man betrauern und feiern konnte. Keinen entehrten Sodomiten, dessen Namen selbst seine Familie nie wieder in den Mund genommen hätte.«
Dann herrschte Schweigen, das nur von den Geräuschen einer aufgeschreckten Waldschnepfe unterbrochen wurde Irgendwo rief wenig später in der Nähe eine Eule, und ihr lautloser Schatten huschte am Fenster vorüber, ein Teil der aufsteigenden Nacht.
Grey hätte gern etwas gesagt, doch ihm stiegen Wut und Brandy und Trauer - um Weber, um Percy, um von Namtzen und nicht zuletzt um sich
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