Die Sünde der Brüder
war.
Mittsommer war nicht mehr fern, und der Himmel blieb bis zum späten Abend hell. Zunehmend besäuselt hörte Grey eine Uhr zehn schlagen. Kurz zuvor war Wilhelm noch einmal gekommen, um die Kerzen anzuzünden und den Dekanter wieder zu füllen, doch er konnte von Namtzens Gesicht auch im schwindenden Licht, das zum Fenster hereinfiel, noch sehen.
Es war jetzt von Ruhe erfüllt, obwohl sich einige grimmige Linien, die im vergangenen Jahr noch nicht dagewesen waren, von seiner Nase zu seinem Mund gegraben hatten. Sein Mund hatte seine Fülle verloren und war zu einer schroffen Linie geworden, die sich nur entspannte, wenn es Grey gelang, ihn zum Lachen zu bringen. Grey verspürte den plötzlichen Impuls, die Hand auszustrecken, Stephans mit einem Stoppelbart bedeckte Wange zu umfassen und zu versuchen, diese Linien mit dem Daumen glatt zu streichen. Er widerstand dem Impuls und ließ sich von Stephan das Glas nachfüllen. Bald. Er würde bald reden müssen - solange er es noch konnte.
»Es ist beinahe Neumond«, merkte Stephan an und wies kopfnickend zum Fenster, wo nun die schwache Sichel des abnehmenden Mondes am lavendelfarbenen Himmel leuchtete. »Die Dachse kommen bei Neumond öfter aus ihren Bauten. Vielleicht gehen wir morgen Abend mit Gustav in den Wald. Ihr bleibt doch ein paar Tage, oder?«
Grey schüttelte den Kopf und fasste sich ein Herz.
»Unglücklicherweise nur ein oder zwei Tage. Ich bin leider mit einem unangenehmen Anliegen gekommen.«
Stephan konnte inzwischen nicht mehr richtig geradeaus schauen, doch er hob den Kopf von der Betrachtung seines ebenfalls frisch gefüllten Glases und wandte ihn Grey zu. In seiner Miene spiegelten sich Neugier und ein eulenhaftes Mitgefühl.
»Ach ja? Was ist es denn?«
»Oberleutnant Weber«, sagte Grey in der Hoffnung, dass sein Tonfall beiläufig klang. »Michael Weber.« Der Name fühlte sich seltsam und abstoßend auf seiner Zunge an, und er kämpfte die unwillkommenen Erinnerungen nieder, die ihn jedes Mal überkamen, wenn er Webers Namen hörte oder aussprach - der Anblick von Webers muskulösem, pumpendem, blassem Rücken, die zerknitterte Kniehose, die ihm um die Oberschenkel hing -, und den Ansturm der Wut, der jedes Mal mit diesem Bild einherging. »Ich hätte ihn gern gesprochen - wenn Ihr nichts dagegen habt.«
Von Namtzen runzelte die Stirn. Schüttelte den Kopf, schluckte und verzog das Gesicht, als ob der Alkohol in seiner Kehle brannte.
»Ihr habt etwas dagegen?« Grey zog die Augenbraue hoch.
Stephan schüttelte erneut den Kopf, stellte sein Glas ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen.
»Er ist tot.« Die Worte kamen heiser heraus, und er schüttelte erneut den Kopf und räusperte sich heftig, um sie dann noch einmal deutlicher zu wiederholen. »Er ist tot.«
Grey hatte ihn schon beim ersten Mal verstanden.
»Was ist passiert?«, fragte er. Ihm war bei von Namtzens Worten das Herz stehengeblieben, und jetzt setzte es sich mit einem Ruck wieder in Bewegung.
Von Namtzen griff nach dem Dekanter, obwohl sein Glas noch fast voll war.
»Ich habe ihn erschossen«, sagte er ganz leise.
»Ihr -« Grey schluckte seinen Ausruf herunter und holte tief Luft. »Wie?«, fragte er so gleichmütig wie er konnte. »Ich meine - Ihr habt ihn exekutiert? Persönlich?«
»Nein.« Es war nicht übermäßig warm im Zimmer, doch
auf Stephans Kinn hatte sich ein Schweißfilm gebildet; Grey sah ihn aufschimmern, als er sich abwandte, um nach dem Dekanter zu greifen.
»Ihr müsst verstehen. Man hätte ihn hingerichtet - gehängt, wenn er vor ein Kriegsgericht gekommen wäre. Seine Familie wäre Schimpf und Schande ausgesetzt gewesen, und sie haben noch andere Söhne in der Armee … deren Ruin das bedeutet hätte. Ich … kenne seine Familie schon sehr lange. Sein Vater ist mein Freund. Michael …« Er rieb sich heftig über die Lippen. »Ich habe den Jungen seit seiner Geburt gekannt.«
Gustav, der spürte, dass seinen Herrn etwas bedrückte, erhob sich und tapste zu von Namtzens Fuß hinüber. Dort setzte er sich hin und lehnte sich schwer an sein Bein, um ihm Trost zu spenden. Grey wünschte, er könnte sein Mitgefühl ebenfalls so direkt ausdrücken, doch alles, was er im Moment tun konnte, war zu schweigen.
Zum ersten Mal sah ihm von Namtzen direkt in die Augen, die mit ihrer blutunterlaufenen Farbe und ihren verquollenen Rändern keinen Zweifel an der Tiefe seines Elends ließen.
»Ich konnte nicht zulassen, dass ihm - seiner
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