Die Sünde der Brüder
lachte.
»Ein Hund ist glücklicherweise durch keinerlei Fantasie beschwert«, versicherte er Grey. »Er lebt nur für den Augenblick und kennt keine Zukunftsangst.«
Diese Einstellung hatte offensichtliche Vorteile - doch Grey konnte nicht umhin festzustellen, dass es zumindest teilweise auch darauf ankam, was im Zentrum des fraglichen Momentes stand. Gerade jetzt schien Gustav einen Moment zu erleben, in dessen Zentrum ein wütender Dachs stand, und von Namtzen, der nun einmal mit Fantasie beschwert war, schien das Schlimmste zu befürchten. Er klammerte sich mit der Hand an Greys Arm, während er auf Deutsch eine Mischung aus Flüchen, Beschwörungen und Gebeten ausstieß.
Diese schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen, denn nach einer kurzen, atemberaubenden Stille bewegte sich etwas am Tunneleingang - Gustav bahnte sich langsam seinen Weg aus dem Bauch der Erde und schleifte den Körper seines Gegners hinter sich her.
Sie erlaubten dem Hund, seine Beute auszuweiden und sich zur Feier seines Sieges in den blutigen Überresten zu wälzen, bevor ihn der Wildhüter im Triumph davontrug, um einen Riss in seinem Ohr zu flicken. Grey und von Namtzen blieb es überlassen, ihm in ihrem eigenen Tempo zu folgen.
Die Sonne war endlich hinter den Bäumen versunken, doch der Himmel war noch in leuchtendes Gold getaucht. In wenigen Minuten würde er grau werden, doch für die Dauer eines Herzschlags malten sich die Äste des Waldes schwarz davor ab, jeder Zweig und jedes Blatt deutlich erkennbar und wunderschön.
Grey und von Namtzen standen da und sahen zu, beide vom Augenblick gefesselt. Grey hörte, wie Stephan mit einem Seufzer ausatmete, und das Licht begann zu schwinden.
»Das ist meine liebste Tageszeit«, sagte Stephan.
»Wirklich? Ist es Euch nicht zu melancholisch?«
»Nein, gar nicht. Alles ist still. Ich fühle mich … allein.«
»Allein oder einsam?«, fragte Grey.
»Allein. In Ruhe«, antwortete von Namtzen mit einem kleinen Lächeln. »Bei Tageslicht habe ich immer zu tun, und abends habe ich gesellschaftliche Verpflichtungen - offizielle Bankette oder Bälle. Aber wenn das Licht schwindet, stellt niemand Ansprüche an mich. Da - ist das nicht schön?« Er wies kopfnickend auf die Aussicht, die sich ihnen bot. Sie waren auf dem Kamm eines kleines Hügels nicht weit vom Jagdhaus entfernt aus dem Wald getreten. Waldesruh und der dazugehörige Stall lagen ein wenig unterhalb von ihnen, und die klaren Linien der Gebäude verschwammen im Zwielicht, sodass das Haus im Begriff zu sein schien, in der Erde zu versinken und von den Bäumen überdeckt zu werden, die dunkel und schweigsam den Abhang hinunterflossen.
Normalerweise wäre Grey die Vorstellung, dass alles verschwinden könnte und sie die Nacht allein im Wald überstehen müssten, ein wenig einschüchternd vorgekommen.
Doch im Moment konnte er Stephans Wehmut verstehen, und er teilte sie. Ganz für sich zu sein, seine Last am Fuß der Bäume abzulegen und sie dort - wenn auch nur für einen Augenblick - im zunehmenden Schatten zu vergessen.
»Ja«, sagte er. »Wunderschön.«
Sie blieben einige Minuten lang stehen, ohne zu sprechen. Sahen zu, wie die letzte Spur von Farbe vom Himmel verschwand und das Geflecht der Zweige verschwamm und sich mit der Dunkelheit verband, als nun die Nacht unaufhaltsam aus der Erde aufstieg.
»Nun«, sagte von Namtzen beiläufig. »Worum geht es?«
Grey atmete einen tiefen Zug der kühlen grünen Waldluft ein und erklärte Stephan die Lage, so knapp er konnte.
»Oh, wie bestürzend für Eure Familie! Mein Lieber, wie leid mir das tut.« Von Namtzens Stimme war von Mitgefühl erfüllt. »Was glaubt Ihr, was mit ihm geschehen wird?«
»Ich weiß es nicht. Man wird ihn vor ein Kriegsgericht stellen. Und ihn mit großer Sicherheit für schuldig befinden. Doch das Strafmaß …« Die Stimme versagte ihm. Es verging kein Tag, an dem er nicht daran denken musste, wie man Otway schreiend zum Galgen geschleift hatte, doch er hatte das abergläubische Gefühl, dass er die Möglichkeit heraufbeschwören könnte, wenn er von ihr sprach. »Ich weiß es nicht«, sagte er noch einmal.
»Man wird ihn für schuldig befinden«, wiederholte von Namtzen und runzelte die Stirn. »Verstehe ich es richtig, dass es außer dem Hauptmann noch weitere Zeugen gab?«
»Ja. Ein Offizier namens Custis - und ich.«
Von Namtzen erstarrte und ließ den Sack mit dem Dachs fallen, um Grey am Arm zu packen.
»Großer Gott!«
»Ja, das trifft
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