Die Sünde der Brüder
Ausdruck.
»Deinen Arm«, sagte Grey, als sei das völlig logisch.
Stephan sah ihn noch einen Moment ohne jeden Ausdruck an, dann wandte er den Blick ab. Grey machte sich bereits Vorwürfe wegen seiner Unbeholfenheit, doch dann griff Stephans Hand nach der Nadel, mit der der lose Ärmel an der Brust seines Rockes festgesteckt war.
Er legte den Rock ohne Probleme ab, sah Grey jedoch immer noch nicht an. Dann legte er die Hand auf das weiße Leinen seines Halstuchs und hielt inne.
»Hilf mir«, sagte er leise.
Grey trat dicht an ihn heran und langte mit beiden Händen hinter von Namtzens Kopf, wo er ein wenig mit dem Verschluss kämpfen musste. Stephans Haut war sehr warm, das Halstuch feucht. Plötzlich löste es sich und fiel zu Boden.
»Ich würde keinen guten Kammerdiener abgeben«, versuchte er zu scherzen, während er sich bückte, um das Tuch aufzuheben. Aus dem Augenwinkel sah er Stephans langen, kräftigen Hals, auf dem das Halstuch einen rötlichen Abdruck hinterlassen hatte. Sah ihn schlucken und wusste, was er zu tun hatte.
Er zog Stephan sanft und ohne weitere Fehlgriffe das Hemd aus. Er war auf den Anblick des Arms vorbereitet und erschrak nicht, obwohl ihn der Gedanke an den muskulösen Unterarm und die gütige, breite Hand, die jetzt verschwunden waren, mit Traurigkeit erfüllte. Es war ein sauberer Stumpf, direkt oberhalb des Ellbogens abgetrennt; die Narben gut verheilt, auch wenn sie noch rot verfärbt waren.
Stephans Muskeln verkrampften sich sofort, als Grey ihn berührte, und Grey pfiff leise durch die Zähne, als wäre Stephan ein nervöses Pferd, sodass der Deutsche leise prustete,
wenn er auch nicht richtig lachte. Grey fuhr ihm beruhigend mit der Hand über die Schulter, und sein Daumen zeichnete die Furche in den Oberarmmuskeln nach.
Von Namtzen hatte wunderschöne Haut, dachte er. Nur einen Hauch dunkelgoldener Haare auf der Brust. Porenlos und glatt mit einem sanften Schimmer, der den Blick und die Hand anzog.
Du bist wie Porzellan , dachte er, sagte es aber nicht. Und fast genauso zerbrechlich, nicht wahr?
Er hob den widerstandslosen Arm und drückte einen leichten Kuss auf das Ende des Stumpfes.
»Schon gut«, sagte er.
Und sah Stephans Bauchmuskeln, die sich fest unter seiner Haut abzeichneten. Die Abendluft war mild, doch er konnte von Namtzens plötzlichen Schweißausbruch riechen, Salz und Moschus, und auch er spannte sich von der Kopfhaut bis zu den Knien an. Doch dies war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort - noch der richtige Mann. Stephan zu gestatten, sich zu seinem Verlangen zu bekennen, würde ihn zerstören - und das Werkzeug dieser Zerstörung zu sein, würde auch Grey schwer treffen; er machte sich keine Illusionen, was seine eigene Zerbrechlichkeit betraf.
Eines gab es jedoch, das er Stephan vielleicht schenken konnte; möglich, dass es nicht half - Percy hatte es ja auch nicht geholfen -, doch es war alles, was er hatte.
»Ich liebe dich, Bruder«, sagte er. Er richtete sich auf und sah Stephan in die Augen. »Versuch also bitte nicht weiter, dich umzubringen, ja?«
Er hob das Hemd auf und rollte es auf, sodass es von Namtzen ungehindert über den Kopf glitt. Half Stephan, mit den Armen in die Ärmel zu fahren, und bückte sich nach dem Rock.
»Ich glaube … du würdest einen sehr guten Kammerdiener abgeben«, entfuhr es von Namtzen. Dann wurde er so rot, dass es selbst im Dämmerlicht zu erkennen war. »Entschuldigung. Es sollte keine Beleidigung sein.«
»Ich betrachte es als großes Kompliment«, versicherte Grey ihm ernst. »Ich habe Hunger - wollen wir jetzt heimgehen und etwas essen?«
27
Wie ein Ehrenmann
Nach der Rückkehr von seinem Besuch bei von Namtzen fühlte sich Grey um einiges gleichmütiger und begegnete sämtlichen Nachfragen und Sympathiebekundungen mit einer distanzierten, unerschütterlichen Höflichkeit, die den Fragenden - und seine eigenen Gefühle - auf Distanz hielt. Bei Hal funktionierte diese Technik allerdings nicht.
Er sah seinen Bruder erst einige Tage nach seiner Rückkehr, da Hal mit Herzog Ferdinand unterwegs gewesen war. Am Abend kam Hal nach dem Essen unangekündigt zu ihm ins Zelt und setzte sich uneingeladen zu Grey, der gerade seine Tagesbefehle verfasste, an den Tisch.
»Hast du einen Brandy?«, fragte Hal ohne Umschweife.
Grey griff kommentarlos unter den Tisch und holte den Krug mit dem exzellenten Brandy hervor, den von Namtzen ihm mitgegeben hatte - inzwischen war er halb leer.
Hal nickte
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