Die Sünde der Brüder
Grey ungläubig.
»Weißt du, was aus… Wainwrights …«, Hal suchte nach einem Wort, »… Komplizen geworden ist?«
»Ja, ich weiß es. Von Namtzen hat es mir erzählt. Willst du mir ernsthaft vorschlagen, Percy Wainwright im Gefängnis zu besuchen und ihn zu ermorden?«
»Nein. Ich schlage vor , dass du ihn besuchst, ihm die Waffe gibst und ihm… nahelegst, sich wie ein Ehrenmann zu verhalten. Es wäre für alle das Beste«, fügte Hal leise hinzu und richtete den Blick auf die Tischplatte. »Auch für ihn.«
Grey stand so heftig auf, dass er fast den Tisch umgeworfen hätte, und verließ das Zelt. Er hatte das Gefühl, er könnte in Stücke fliegen, wenn er sich nicht bewegte.
Blindlings wanderte er den Mittelgang zwischen den Zelten entlang. Ihm war vage bewusst, dass ihn hier und da jemand ansah, ihm zuwinkte oder ihn ansprach, doch er antwortete nicht, und die Männer fielen zurück und sahen ihm mit verwunderten Gesichtern nach.
Für alle das Beste. Auch für ihn .
»Auch für ihn«, flüsterte er vor sich hin. Er erreichte das Ende des Mittelgangs, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück. Diesmal sprach ihn niemand an; sie beobachteten ihn nur fasziniert, so wie man eine Galgenprozession beobachtet. Er gelangte wieder bei seinem Zelt an, schlug den Eingang auf und trat ein. Hal saß immer noch am Tisch, vor sich die Pistole und den Brandykrug.
Er spürte die Worte wie Kiessplitter in seiner Kehle stecken und kaute darauf, bis er Sand zwischen den Zähnen zu spüren schien.
Du bist das gottverdammte Familienoberhaupt! Du bist sein Oberst, sein Vorgesetzter. Und du bist auch sein gottverdammter Bruder - genau wie ich .
Irgendetwas davon hätte er ausspucken können - oder alles. Doch er sah Hals Gesicht. Die abgrundtiefe Erschöpfung, die Kraft, die es ihn kostete, erneut gegen einen Skandal und gegen das Gerede anzukämpfen. Den ewigen, unausweichlichen Kampf, den es kostete, eine Familie zusammenzuhalten.
Er sagte nichts. Ergriff einfach nur die Pistole und steckte sie sich in den eigenen Rucksack.
Du beschützt doch jeden, John , sagte Percys Stimme mitfühlend. Ich glaube, du kannst gar nicht anders .
Auf dem Rückweg zum Tisch öffnete er seine kleine Feldtruhe und holte die beiden Zinnbecher aus ihren Fächern.
»Lass uns wenigstens wie zivilisierte Menschen auftreten«, sagte er ruhig und stellte sie auf den Tisch.
Percy saß auf der Holzbank, die ihm als Sitzgelegenheit, Bett und Tisch diente. Als sich die Tür öffnete, sah er zwar auf, doch er bewegte sich nicht. Sein Blick hing argwöhnisch an Greys Gesicht.
Der kleine, weiß gekalkte Raum war eigentlich sauber, aber sein Geruch traf Grey wie ein Boxhieb. Es gab kein Fenster, und die Luft war stickig und feucht und stank nach ungewaschener Haut und säuerlicher Wäsche. Es war unübersehbar eine Vorratskammer; sogar jetzt hingen noch Zwiebelzöpfe und schwarze Blutwurstringe an den Deckenbalken, die mit dem eisernen Fäkalieneimer, der ungeleert und ohne Deckel in der Ecke stand, um die Wette stanken. Schon lag ihm der Protest über diese unwürdigen Bedingungen auf den Lippen, doch er presste sie fest aufeinander, schluckte die Worte herunter und nickte dem Wächter zu. Welche Rolle spielten solche Dinge angesichts der Aufgabe, die er zu erfüllen hatte.
Unter den Deckenbalken befanden sich einige schmale Schlitze, doch der Raum selbst lag im Schatten, der von den Bewegungen der Blätter des Baumes vor dem Haus gebrochen wurde. Grey hatte das Gefühl, sich unter Wasser zu bewegen, als er nun dieses gedämpfte, fleckige Licht durchschritt - als verlangsame sich jeder Gedanke und jede Bewegung.
Die Tür schloss sich hinter ihm. Schritte entfernten sich, und sie waren allein. Es bestand keine Gefahr, dass jemand hörte, was sie sagten. In einiger Entfernung waren Geräusche zu hören: schlurfende Stiefel und gedämpfte Befehle, fröhliche Geselligkeit in der Schänke nebenan.
»Behandelt man dich gut?« Die Worte klangen trocken und emotionslos. Er wusste nur zu gut, wie sich die Wachen gegenüber einem Gefangenen verhalten mussten, der der Sodomie bezichtigt wurde.
Percy wandte den Blick ab, und sein Mund verzog sich ein wenig.
»Ich - ja.«
Grey stellte den Hocker ab, den der Wächter ihm mitgegeben hatte, und setzte sich darauf. Seit ihm Hal die Pistole gegeben hatte, hatte er sich diesen Moment hundertmal vorgestellt; er hatte schlaflose, in Schweiß gebadete Nächte darüber verbracht und sich krank gefühlt -
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