Die Sünde der Brüder
mir ganz plötzlich der Name des Mannes eingefallen, mit dem ich bei White’s verabredet war. Es war Arthur Longstreet, und ich bin fest davon überzeugt, dass er mich um eine medizinische Konsultation gebeten hatte .
Unglücklicherweise habe ich immer noch keine Ahnung, worüber er sich mit mir unterhalten wollte - oder welchen Beru fer ausübt und wie seine Adresse lautet .
Ich glaube nicht, dass ich ihm schon einmal begegnet bin, da ich seinem Namen kein Gesicht zuordnen kann. Also muss ich schriftlich eingeladen worden sein - obwohl sich der Brief, wenn dies der Fall war, nicht unter meiner Korrespondenz findet .
Seid Ihr zufällig mit Mr. Longstreet bekannt? Falls ja, wäre ich Euch ausgesprochen dankbar, wenn Ihr mir seine Adresse schicken könntet, damit ich ihm schreiben und alles erklären kann. Ich möchte Euch nicht zur Last fallen, doch da ich das
Gefühl habe, dass es um eine medizinische Frage ging, widerstrebt es mir, mich bei White’s zu erkundigen und damit un freiwillig Mr. Longstreets Privatangelegenheiten zu enthüllen. Natürlich werde ich das tun, wenn Ihr den Herrn nicht kennt, aber zunächst wollte ich es wagen, an Eure Bekanntschaft und Eure Freundlichkeit zu appellieren .
Mit herzlichem Dank verbleibe ich
Euer ergebener Diener
Henryk van Humperdinck«
Grey saß immer noch unter dem Baum, als einer der Bediensteten mit einem Teetablett ins Freie kam.
»Mylord? Mrs. Stubbs sagt, Ihr werdet eine Erfrischung zu Euch nehmen.« Grey war zwar in Gedanken versunken, jedoch nicht so tief, als dass ihm die suggestive Formulierung dieser Worte nicht aufgefallen wäre.
»Ach ja?«, sagte er trocken. Er ergriff die Tasse und roch vorsichtig daran. Kamillentee. Er verzog das Gesicht und schüttete ihn in das Blumenbeet.
»Bedankt Euch bei meiner Cousine für ihre Fürsorglichkeit, Joe.« Er stand auf, nahm sich ein Teilchen, stellte fest, dass es mit Himbeeren gefüllt war und legte es wieder zurück. Von Himbeeren bekam er einen Juckreiz. Stattdessen nahm er sich ein Stück Brot mit Butter.
»Und dann lasst bitte die Kutsche vorfahren. Ich muss jemandem einen Besuch abstatten.«
32
Die Beichte
Longstreet lebte in einem bescheidenen Haus. Ein wohlhabender Mann wäre niemals Stabsarzt geworden, und auch wenn Longstreets Vetter in der Lage sein mochte, Zwanzigtausend-Pfund-Wetten abzuschließen, musste der Familienzweig, dem der Doktor angehörte, um einiges ärmer sein.
Ihm selbst war nichts davon zu Ohren gekommen, ob Longstreet verheiratet war. Eine Dienstmagd in den mittleren Jahren ließ ihn mit überraschter Miene ein und schlurfte davon, um den Doktor zu suchen, nachdem sie Grey in einen kleinen, adretten Salon geführt hatte, dessen Wände, Regale und Vitrinen die Souvenirs eines Mannes enthielten, der einen Großteil seines Lebens auf Reisen zugebracht hatte: einen Satz Bierkrüge aus Deutschland, ein Trio emaillierter Schnupftabakdosen aus Frankreich, diverse Tafelmesser mit komplizierten Einlegearbeiten, vier groteske Masken, die grell bemalt und mit Pferdehaar verziert waren, deren Herkunft er jedoch nicht erkannte … offenbar hatte der Mann eine Vorliebe für zusammenpassende Garnituren.
Grey hoffte, dass diese Vorliebe auch darauf hindeutete, dass der Doktor keine halben Sachen machte.
Zögernde Schritte und keuchende Atemgeräusche verkündeten die Ankunft des Besitzers der Sammlung. Körperlich hatte Longstreet sichtlich gelitten, doch er schien nach wie vor er selbst. Er war immer schon hager gewesen, aber zwischenzeitlich war er noch dünner geworden; die Knochen in seinem Gesicht und an seinen Handgelenken waren messerscharf, und seine Haut hatte einen merkwürdigen Grauton angenommen, der im verregneten Licht des Fensters bläulich zu schimmern
schien. Der Doktor stützte sich schwer auf eine Krücke, und seine Haushälterin beobachtete ihn zwar mit einer gewissen körperlichen Anspannung, die darauf hindeutete, dass er hinfallen könnte, doch sie machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen, auch wenn ihre Miene verriet, wie gern sie das getan hätte.
Seine Augen jedoch hatten sich nicht verändert; klar, ein wenig wütend und halb belustigt. Nicht im Mindesten überrascht.
»Wie geht es Euch, Lord John?«, fragte er.
»Gut, ich danke Euch.« Grey neigte den Kopf. »Ich danke Euch wirklich«, fügte er höflich hinzu. »Soweit ich weiß, habe ich mein Überleben zum Großteil Euch zuzuschreiben.« Ob das nun Eure Absicht war oder nicht , dachte
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