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Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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gewesen, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Aber wenn es so wäre, hätte mich der Herr, mit dem ich mich treffen wollte, doch wohl erkannt? Ach, nun ja, ich muss es wohl so hinnehmen; vielleicht werden mir ja von selbst noch weitere Erinnerungen kommen. Geduld ist schließlich eine große Tugend«, sagte er philosophisch.
    Eine halbe Stunde später hatte er seine Untersuchung beendet, in deren Verlauf er Grey viele freundliche und aufmerksame
Fragen gestellt hatte, und kehrte noch einmal zu dieser Aussage zurück.
    »Geduld, Lord John«, sagte er entschlossen. »Geduld ist in fast allen Fällen die beste Medizin; ich kann sie nur dringend empfehlen - auch wenn es mich überrascht, wie wenige Menschen diese Arznei vertragen können.«
    Er lachte gönnerhaft. »Sie glauben, dass Heilung aus einer Flasche oder durch ein Instrument erfolgen muss - und das trifft manchmal zu, manchmal aber eben nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich der Körper meistens selber heilt. Genau wie die Seele«, fügte er nachdenklich mit einem Seitenblick hinzu, bei dem sich Grey die Frage stellte, wie viel der Doktor im Lauf ihrer Unterhaltung von seiner eigenen Seele gesehen hatte.
    »Ihr habt also nicht das Gefühl, dass die verbleibenden Fragmente gefährlich sein könnten?«, fragte er, während er sich das Hemd wieder zuknöpfte.
    »So etwas lässt sich nie mit Gewissheit sagen, Lord John - aber ich glaube es nicht. Ich hoffe es nicht. Ich glaube, dass Eure gelegentlichen Schmerzen nur das Resultat einer Nervenreizung sind - völlig harmlos. Es sollte mit der Zeit vergehen.«
    »Mit der Zeit«, murmelte Grey auf dem Heimweg vor sich hin. Was seinen Körper anging, so konnte er damit leben. Aus berufenem Munde zu hören, dass er wahrscheinlich nicht an der Schwelle des Todes stand, hatte Wunder gewirkt; weder seine Brust noch sein Arm bereiteten ihm Schmerzen. Doch was seine Seele anging … hier wurde ihm die Zeit knapp.

31
    Nota Bene
    Auch seelisch fühlte sich Grey nach seinem Besuch bei Humperdinck zwar besser, doch es war längst noch nicht alles beim Alten. Da er nach wie vor nicht kräftig genug war, um seinen Dienst wieder anzutreten, und er keine sinnvolle Beschäftigung hatte, begann er, sich treiben zu lassen. Es kam vor, dass er zum Beefsteak aufbrach und sich auf einem Spaziergang um den Hyde Park wiederfand oder unter den Marktschreiern im Covent Garden. Oder dass er sich hinsetzte, um zu lesen, und eine Stunde später zu sich kam, weil das Feuer bis auf die Glut heruntergebrannt war, während das Buch unverändert auf der ersten Seite aufgeschlagen auf seinem Knie lag.
    Es war keine Melancholie. Diesen Abgrund konnte er zwar sehen, doch er weigerte sich resolut, den Blick in diese Richtung zu wenden, und drehte seiner lockenden Kante den Rücken zu. Dies war etwas anderes, ein Gefühl unterdrückter Erregung, so als wartete er auf etwas, ohne das er nicht mit seinem Leben fortfahren konnte - ohne jedoch die geringste Ahnung zu haben, worum es sich dabei handeln könnte und wie es zu finden war.
    Seine Korrespondenz war in diesen Tagen spärlich gesät; diejenigen seiner Freunde, die ihm nach seiner Rückkehr ihr Mitgefühl ausgedrückt und ihn zu sich eingeladen hatten, hatten sich durch seine fortwährende Ablehnung entmutigen lassen. Abgesehen von einigen hartnäckigen Seelen, die ihm dennoch weiter schrieben - Lucinda Joffrey zum Beispiel -, ließen ihn die meisten jetzt in Ruhe.
    Daher betrachtete er den Brief, den ihm der Butler neben den Teller legte, mit schwacher Neugier. Glücklicherweise trug
er kein offizielles Siegel oder sah sonst irgendwie danach aus, als hinge er mit dem Regiment zusammen. Wäre es so gewesen, dachte er, so wäre er versucht gewesen, ihn ins Feuer zu werfen. Er rechnete täglich damit, von Percys Verhandlung - oder seinem Tod - benachrichtigt zu werden, und fürchtete beides gleichermaßen.
    So jedoch wartete er das Ende der Mahlzeit ab und nahm den Brief mit in den Garten, wo er ihn schließlich unter einer Rotbuche öffnete. Er stammte von Dr. Humperdinck, dessen Unterschrift ihm ins Auge fiel, und er hätte den Brief am liebsten entnervt zusammengeknüllt, wenn ihm nicht der erste Satz ins Auge gefallen wäre.
     
    » Ich weiß es wieder «, stand dort einfach.
    Grey setzte sich langsam hin, den Brief in der Hand.
     
    » Mein werter Lord John -
     
    Ich weiß es wieder. Natürlich nicht alles; es gibt nach wie vor große Lücken in meiner Erinnerung. Aber heute Morgen ist

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