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Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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er.
    Longstreet nickte und ließ sich in einen Armsessel sinken, aus dessen Tiefen er Grey sardonisch betrachtete.
    »Ihr habt … letztlich mehr Glück gehabt als ich.« Er fasste sich kurz an seine Brust, die nach Luft rang. »Beidseitiger… Lungendurchschuss.«
    »Ich bedaure, das zu hören«, sagte Grey, und es war ihm ernst damit. Longstreet wies auf den anderen Sessel, und Grey zog ihn ein Stückchen vor und setzte sich.
    »Habt Ihr Euch schon Rat bei Dr. Humperdinck geholt?«, fragte er. Womit hätte er schließlich sonst beginnen sollen?
    Longstreet zog eine Augenbraue hoch.
    »Bei Humperdinck? Ich? Warum?«
    »Er ist doch Experte für Brustleiden, oder nicht?«
    Longstreet starrte ihn einen Moment lang an, dann begann er alarmierend zu keuchen.
    »Ist… es … das … was … sie … Euch … gesagt … haben?«, brachte er schließlich hervor, und Grey begriff, dass er lachte. »Wer … wer auch immer Euch zu ihm geschickt hat?«
    »Ja«, sagte Grey, der jetzt ein wenig ärgerlich wurde. »Ist er das etwa nicht?«
    Longstreet durchlitt einen kurzen Hustenanfall und hielt sich kopfschüttelnd ein Taschentuch vor den Mund.

    »Nein«, keuchte er schließlich und verharrte einen Moment schwer atmend, bevor er fortfuhr. »Er ist Spezialist für seelische Störungen, vor allem solche melancholischer Disposition.« Longstreet betrachtete ihn mit unverhohlener Belustigung. »Konnte er Euch … helfen?«
    »Merkwürdigerweise ja.« Grey ließ nicht zu, dass sich ein gereizter Unterton in seine Stimme schlich, und unterdrückte seinen Ärger über Lucinda Joffrey. »Er hat mich zu Euch geschickt.«
    »Ach ja?« Argwohn zeigte sich plötzlich in den klugen grauen Augen. »Warum denn? Er kennt mich doch gar nicht.«
    »Nicht?« Grey hielt es für politisch klug, Dr. Humperdincks Gedächtnisstörungen nicht zu erwähnen. »Warum hattet Ihr ihn dann gebeten, sich am Abend unserer ersten Begegnung mit Euch bei White’s zu treffen?«
    Auch sein Denkvermögen hatte kurzfristig gelitten, als er Dr. Humperdincks tatsächliches Spezialgebiet erfuhr, doch nun funktionierte es wieder. Eigentlich hatte er sogar geradezu das Gefühl, dass sich seine Vernunft nach monatelanger Abwesenheit plötzlich wieder zurückgemeldet hatte. Und die Erleichterung, wieder logisch denken zu können, war wie Wasser in der Wüste.
    Longstreet hielt sich erneut das Taschentuch vor den Mund und hustete, doch Grey empfand dies als offensichtlichen Schachzug, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen - und er hatte nicht vor, ihm einen solchen Vorteil zu gestatten.
    »Ich bin mir sicher, dass Ihr ihn nicht für Euch selbst um seine professionelle Meinung bitten wolltet«, sagte er. »Also ging es um jemand anderen. Einen Mann, der Humperdinck nicht selbst aufsuchen konnte oder wollte.« Er beobachtete Longstreets Gesicht genau, sah aber keinerlei Argwohn oder Genugtuung bei den Worten »einen Mann«. Gut, also war es keine Frau; er hatte gedacht, es wäre vielleicht um eine Ehefrau oder Mätresse gegangen, in welchem Fall es wahrscheinlich von keinerlei Interesse für Grey gewesen wäre.
    Longstreet hatte das Taschentuch aus seinem Gesicht entfernt
und beobachtete Grey mit zusammengekniffenen Augen. Offenbar fragte er sich, wie viel ihm Dr. Humperdinck wohl erzählt hatte.
    »Die Patienten eines Arztes haben ein Anrecht auf Vertraulichkeit«, sagte er langsam. »Gewiss würde Dr. Humperdinck niemals etwas preisgeben, das -«
    »Dr. Humperdinck leidet nach wie vor unter den Folgen der Apoplexie, die er an jenem Abend erlitten hat«, wandte Grey rasch ein. »Sein Gedächtnis ist zwar zum Großteil wiederhergestellt, aber er ist leider immer noch nicht wieder ganz der Alte.«
    Er lächelte flüchtig und hoffte, den Eindruck erweckt zu haben, dass Humperdincks Urteilsvermögen und Berufsethik zu wünschen übrig ließen. Er bedauerte es, dem Ruf des Doktors schaden zu müssen, selbst andeutungsweise - doch die Vernunft war eine gnadenlose Herrin, und die Vernunft sagte ihm, dass er hier auf der richtigen Spur war.
    Longstreet spitzte die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn, doch sein Blick war nicht länger auf Grey gerichtet. Er betrachtete irgendetwas im Inneren seines Kopfes, das er in Frage zu stellen schien. Geistesabwesend griff er auf den Tisch, wo eine betagte Meerschaumpfeife neben einem Humidor lag.
    »Das Schlimmste an der ganzen Sache ist, dass ich nicht mehr rauchen kann«, stellte er fest und fuhr liebevoll mit dem Daumen über den

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