Die Sünde der Brüder
einen Stoß, und er wich hastig zurück, um ihr zu entrinnen. Doch sie feierten die Taufe im Garten seines Elternhauses, und der Fischteich in seinem Rücken verstellte ihm die Flucht.
»Sieh ihn dir an, Horry«, befahl sie. »Wie sieht er aus?«
»Wie die Herzogin von Kendal«, erwiderte Horace Walpole prompt. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, zwei Tage vor ihrem wenig bedauerlichen Ableben.«
»Danke, Mr. Walpole«, sagte Grey und warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Nicht, dass Eure Lordschaft nicht einen viel besseren Geschmack hätten als Lady Kendal.« Walpole zahlte ihm den Blick mit gleicher Münze zurück. »Eure Gesichtsfarbe jedoch ist nicht der Ton, mit dem ich die Farbe Eures Anzugs ergänzen würde. Es ist zwar nicht ganz die Farbe meiner kleinen Lieblinge -« Er wies auf einen Sherrydekanter auf einem Tisch, in dem er Minnie einige kleine Goldfische als Geschenk mitgebracht hatte. »Doch es kommt dem Ton schon ziemlich nahe.«
»Du musst einen Arzt aufsuchen, John«, sagte Lucinda und senkte ihren Fächer, sodass er ihre hübschen, jetzt aber unverhüllt besorgten Augen sehen konnte.
»Ich will aber keinen Arzt.«
»Es gibt da einen sehr guten Mann in meiner Bekanntschaft«, sagte Walpole, als sei ihm unvermittelt die Erleuchtung gekommen. »Ein Spezialist für Erkrankungen der Brust. Ich wäre entzückt, Euch mit ihm bekanntzumachen.«
»Wie gütig von Euch, Horry! Ich bin mir sicher, dass jemand, den Ihr empfehlt, ein Könner sein muss.« Lucinda öffnete dankbar ihren Fächer.
Grey, um den es noch nicht so schlecht bestellt war, dass er ihre unverblümte Verschwörung und ihre extrem schlechte Schauspielkunst nicht gewittert hätte, verdrehte die Augen.
»Nennt mir seinen Namen«, sagte er scheinbar resigniert. »Ich werde ihm schreiben und um einen Termin bitten.«
»Oh, das ist nicht nötig«, sagte Walpole fröhlich. »Dr. Humperdinck ist selbst sehr daran interessiert, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich lasse Euch morgen um drei Uhr eine Kutsche schicken.«
»Und ich«, fügte Lucinda rasch an und warf ihm einen stechenden Blick zu, »werde hier sein und dafür sorgen, dass Ihr auch einsteigt.«
»Ich sehe schon, dass es kein Entrinnen gibt, es sei denn, ich stürze mich in den Fischteich«, sagte Grey und seufzte. »Also gut.«
Lucinda zog angesichts seiner abrupten Kapitulation zunächst eine geschmeichelte, dann alarmierte Miene. Tatsächlich jedoch fehlte ihm einfach die Kraft zu ernsthaftem Widerstand - außerdem, so stellte er fest, war es ihm eigentlich gleichgültig. Welche Rolle spielte es denn schon?
»Mr. Walpole«, sagte er und wies kopfnickend auf den Tisch. »Ich fürchte, mein Neffe Henry ist im Begriff, Eure Fische zu trinken.«
Inmitten der Aufregung, die durch die Rettung und den darauf folgenden feierlichen Umzug der Fische in ihr neues Heim entstand, gelang es Grey, sich unauffällig davonzustehlen und sich in die Bibliothek zu begeben.
Dort saß er immer noch, ein Schauspiel von Molière aufgeschlagen, aber ungelesen auf dem Knie, als sich ein Schatten auf ihn legte. Als er den Kopf hob, sah er, dass es erneut der Ehrenwerte Horace Walpole war. Walpole war ein schmächtiger Mann, und seine Erscheinung war viel zu zerbrechlich, als dass er irgendjemanden hätte überragen können; er stand schlicht neben Greys Sessel.
»Es ist eine grauenvolle Angelegenheit«, sagte Walpole leise und unverstellt.
»Ja.«
»Ich habe mit meinem Bruder gesprochen.« Das musste der Graf von Orford sein, dachte Grey; Walpole war der jüngste
Sohn des verstorbenen Premierministers, und er hatte drei Brüder, von denen jedoch nur der Älteste einigen Einfluss besaß - wenn auch nicht annähernd so viel wie sein Vater.
»Vor dem Prozess kann er nichts ausrichten, aber … falls -« Walpole zögerte kaum merklich, weil er offensichtlich in letzter Sekunde beschlossen hatte, das »wenn« durch ein »falls« zu ersetzen. Beim »Euer« zögerte er schon länger.
»Mein Bruder«, sagte Grey leise.
»Falls man ihn verurteilt, wird sich der Graf, soweit es ihm möglich ist, für eine Begnadigung einsetzen. Und ich habe … ebenfalls Freunde bei Hofe, auch wenn mein Einfluss nicht sehr groß ist. Ich werde tun, was ich kann. Das zumindest verspreche ich Euch.«
Walpole war alles andere als ein gut aussehender Mann, denn er hatte ein fliehendes Kinn und eine hohe, ziemlich flache Stirn, doch er besaß intelligente dunkle Augen, die normalerweise vor Neugier oder Schabernack
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