Die Sünde der Brüder
öffnete die Augen nicht, hob aber langsam die Hand und legte sie über die ihre.
Grey hatte die Kutsche fortgeschickt, weil er nicht wusste, wie lange seine Unterredung dauern würde. Es wäre kein Problem gewesen, sich eine Droschke zu suchen, doch er beschloss, zu Fuß zu gehen, ohne recht zu wissen, welche Richtung er einschlug.
In seinem Kopf brodelten Enthüllungen, Schock, Spekulationen - und Frustration vor sich hin. Das Ganze war mit einem Substrat aus Trauer durchsetzt - um seinen Vater, seine Mutter. Um Hal. Seine eigene Trauer schien jetzt nicht so wichtig zu sein und wurde doch durch sein Wissen um die Vergangenheit seiner Familie noch verstärkt.
Durch den Druck in seiner Brust fiel ihm das Atmen schwer. Doch er machte sich keine Gedanken um den verbleibenden
Schrapnellsplitter, sondern blieb lediglich hin und wieder stehen, wenn er zu kurzatmig zum Weitergehen wurde. Schließlich fand er sich am Ufer der Themse wieder, wo er sich auf ein Boot setzte, das kieloben dalag. Er hatte das Tagebuch in seinem Rock stecken und sah dem braunen Wasser zu, das stetig höher gegen das Ufer schlug, weil die Flut stieg. Erschöpft gab er das Denken auf, und sein Kopf leerte sich Stück für Stück.
Regenschauer wehten über ihn hinweg, doch kurz vor Sonnenuntergang begannen die Wolken über ihm aufzureißen und auseinanderzutreiben.
Eine Schlussfolgerung ist einfach nur der Punkt, an dem man das Denken aufgibt . Er gab auf, und als er sich jetzt steif erhob, stellte er fest, dass sich auch in seinem Kopf eine Schlussfolgerung geformt hatte wie eine Perle in einer Auster.
Er war Longstreets Beichtvater gewesen. Jetzt war es Zeit, dass er sich selbst einen suchte.
33
Der ehrenhafte Weg
»Ich habe getan, worum Ihr mich gebeten habt, Lord John«, sagte Dunsany mit gesenkter Stimme, als könnte es jemand hören - obwohl sie allein in der Bibliothek waren.
»Worum ich - oh!« Erst jetzt fiel Grey seine Bitte wieder ein, es James Fraser zu gestatten, dass er Briefe versendete. »Ich danke Euch, Sir. Wisst Ihr vielleicht, ob … dieses Experiment zu einem Ergebnis geführt hat?«
Dunsany nickte und legte die schmale Stirn in Sorgenfalten.
»Er hat eine Reihe von Briefen abgeschickt - insgesamt zehn, glaube ich. Wie von Euch gewünscht, habe ich sie nicht geöffnet -« Seine Miene verriet, dass er dies für einen schwerwiegenden Fehler hielt. »Ich habe mir nur die Adressen notiert. Drei wurden an einen Ort in den Highlands versandt, an eine Mrs. Murray. Zwei nach Rom und der Rest nach Frankreich. Ich habe hier eine Liste der Namen …« Er kämpfte mit seiner Schreibtischschublade, doch Grey gebot ihm mit einer Geste Einhalt.
»Ich danke Euch, Sir. Später vielleicht. Hat er auf irgendeinen dieser Briefe eine Antwort erhalten?«
»Ja, auf mehrere.« Dunsany machte einen erwartungsvollen Eindruck, aber Grey nickte nur, ohne sich nach Einzelheiten zu erkundigen.
Die Frage nach den untergetauchten Jakobiten, die ihm einmal so wichtig erschienen war, spielte keine Rolle mehr. Wie hatte seine Mutter gesagt? Lass die Toten ihre Toten begraben . Es ging gar nicht anders, dachte er; er hatte alle Hände voll mit der Gegenwart zu tun.
Er setzte seine Unterhaltung mit Dunsany fort, erkundigte sich nach der Lage in Helwater und hörte sich Lady Dunsanys und Isobels Provinztratsch an, doch eigentlich nahm er nicht ein Wort davon zur Kenntnis. Allerdings sah er, dass die Kluft zwischen Lord und Lady Dunsany verheilt zu sein schien; sie saßen beim Tee dicht beieinander, und hin und wieder berührten sich ihre Hände beim Austausch von Brot und Butter.
»Wie geht es Eurem Enkelsohn?«, erkundigte sich Grey irgendwann, weil er oben Babygeschrei hörte.
»Oh, ganz wunderbar«, versicherte ihm Lord Dunsany und strahlte.
»Er zahnt gerade, der Arme«, sagte Lady Dunsany, auch wenn die Schmerzen ihres Enkels sie nicht sehr zu bestürzen schienen. »Er ist uns ein solcher Trost.«
»Er hat schon sechs Zähne, Lord John!«, erzählte ihm Isobel mit der Miene eines Menschen, der eine bedeutende und aufregende Mitteilung zu machen hat.
»Tatsächlich?«, sagte er höflich. »Ich bin zutiefst beeindruckt.«
Er dachte schon, die Mahlzeit würde niemals enden, doch dann war es so weit, und man gestattete ihm, sich auf sein Zimmer zu flüchten. Dort blieb er jedoch nicht, sondern ging heimlich über die Hintertreppe ins Freie. In den Stall.
Einer der anderen Stallknechte war auf dem Paddock beschäftigt, doch Grey schickte
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