Die Sünde der Brüder
verzog den Mundwinkel. »Er hat noch drei weitere Männer beim Namen genannt - MacBeth, Fleance und Siward. Siward war, glaube ich, ein Mann namens Arbuthnot - Victor Arbuthnot. Die anderen kenne ich nicht.«
Grey spürte, wie das Blut in seinen Fingerspitzen pochte, die das Tagebuch berührten.
»Ich habe gesagt, dass ich gezwungen war, zwischen der Wahrheit und dem Leben meines Vetters zu wählen - und ich habe mich für George entschieden, komme, was wolle. Diese
Entscheidung hat mich natürlich nicht von jeder weiteren Verantwortung befreit. Ich habe kein Interesse an der Politik - ein Scharlatan auf dem Thron ist so gut wie jeder andere. Es mag ja so sein, dass der Papst seine Finger nicht von Dingen lassen kann, die ihn nichts angehen, doch Friedrich von Preußen tut das schließlich auch.«
Seine Hand krümmte sich schützend um die kleine Meerjungfrau, und seine Stimme wurde jetzt sanfter, als er Grey ansah.
»Aber ich fühlte mich verpflichtet, weiteren Schaden zu verhindern, wenn ich konnte. Falls einer dieser Männer zu der Überzeugung gelangte, dass Eure Mutter das Wissen Eures Vaters teilte, wäre es gut möglich gewesen, dass man sie lieber umbrachte, als die Möglichkeit zu riskieren, von ihr bloßgestellt zu werden.«
Genau das musste seine Mutter die ganzen Jahre befürchtet haben - ebenso wie die Tatsache, dass Hal die Dinge selbst in die Hand nehmen würde, wenn er hinter die Wahrheit kam.
Und so hatte sie jede ihr mögliche Vorsichtsmaßnahme ergriffen: den Mord an ihrem Vater als Selbstmord getarnt, ihren jüngeren Sohn in Aberdeen in Sicherheit gebracht und schließlich selbst das Land verlassen. Und dann hatte sie sich die nächsten fünfzehn Jahre still verhalten, ohne ihre Wachsamkeit aufzugeben.
» Weiß sie es?«, fragte Longstreet neugierig. »Wer Euren Vater umgebracht hat?«
»Nein. Hätte sie gewusst, wer es war, hätte sie ihn umgebracht, das versichere ich Euch«, sagte Grey.
Longstreet reagierte verblüfft.
»Man sagt Frauen ja erstaunliche Rachsucht nach«, sagte er nachdenklich. »Dennoch … das war der Grund, warum ich ihr den Heiratsantrag gemacht habe. So hätte ich meinem Bruder - und damit seinen Mitverschwörern - garantieren können, dass sie nichts wusste oder dass sie zumindest schweigen würde und sie damit vor ihr in Sicherheit waren.«
»Wenn Ihr glaubt, dass sie geschwiegen hätte, Sir, wisst ihr
nicht das Geringste über Frauen im Allgemeinen und über meine Mutter im Besonderen. Aber da sie ja tatsächlich nicht wusste, wer der Mörder war, hat sie geschwiegen. Aber das muss dann der Grund sein, warum …« Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als es ihm dämmerte.
»Das ist der Grund, warum Ihr eine Seite aus diesem Buch -«, er hob das Tagebuch, »- an meinen Bruder geschickt habt und eine an meine Mutter? Wegen ihrer bevorstehenden Heirat mit General Stanley?«
Longstreet schüttelte den Kopf, und der Atem seufzte in seiner Lunge wie der Wind in den Weiden am Fluss.
»Nein - weil mein Vetter im Sterben lag. Mir war damals schon klar, dass er mit dem Tode rang; fast außer Reichweite … des Gesetzes oder der Menschen. Die an… deren… wenn… sie …«
Grey wurde langsam ungeduldig.
»Und warum habt Ihr mir die O’Higgins-Brüder auf den Hals gehetzt?«
Longstreet runzelte die Stirn.
»Wen?«
»Zwei Soldaten, die versucht haben, mich im Hyde Park zu überfallen.« Plötzlich begriff er, dass Longstreet mit Sicherheit wusste, wer Percys Gönner, Mr. A., war. Die Versuchung, ihn zu fragen, war enorm - doch wenn er es wusste, würde die Versuchung, den Mann zu suchen, noch größer sein. Und dann?
Longstreet rang zunehmend nach Luft, so wie Grey zunehmend um Geduld rang.
»Das - es war nicht beabsichtigt, dass Ihr zu Sch-schaden kommt.«
»Das bin ich auch nicht«, sagte Grey knapp. »Bei dieser Gelegenheit nicht. Doch der Überfall in der Nähe von Seven Dials; wart Ihr das auch?«
Longstreet nickte und presste sich die Hand vor die Brust.
»Eine Warnung. Sie - sie sollten Euch beide Male bewusstlos schlagen und Euch eine dr-dritte Tagebuchseite in die Tasche
stecken. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Ihr Euch w-wehrt.«
»Tut mir leid.« Grey rieb sich den linken Arm. Er trug seine Schlinge nicht, und der Arm schmerzte zunehmend. »Was zum Teufel war der Zweck dieser - dieser Scharade?«
Longstreet lehnte sich zurück und seufzte tief.
»Gerechtigkeit«, sagte er leise. »Sagen wir, ich wollte mein Gewissen beruhigen. Wie
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