Die Sünde der Brüder
ihn mit einer knappen Geste davon. Es war ihm gleichgültig, ob seine Bitte, unter vier Augen mit Jamie Fraser zu sprechen, irgendjemandem seltsam erschien - und die anderen Stallknechte waren ohnehin daran gewöhnt.
Fraser gabelte Heu in die Futterkrippen und warf kaum einen Blick auf Grey, als dieser den Stall betrat.
»Ich bin sofort fertig«, sagte er. »Ich nehme an, Ihr möchtet etwas über die Briefe erfahren.«
»Nein«, sagte Grey. »Das ist es nicht. Jedenfalls nicht jetzt.«
Fraser sah ihn scharf an, aber auf Greys Geste hin fuhr er achselzuckend mit seiner Arbeit fort. Als alle Futterkrippen gefüllt waren, kam er zurück.
»Würdet Ihr Euch von Mann zu Mann mit mir unterhalten?«, fragte Grey ohne Umschweife.
Fraser wirkte verblüfft, doch er überlegte einen Moment und nickte.
»Ja«, sagte er argwöhnisch, und Grey begriff, dass er glaubte, er wolle mit ihm über Geneva sprechen.
»Es geht um etwas, das mich betrifft«, sagte Grey. »Nicht Euch.«
»Ist das so.« Fraser war immer noch skeptisch, doch der Argwohn in seinem Blick ließ nach. »Und worum geht es dabei, Sir? Und warum ich?«
»Warum Ihr.« Grey setzte sich seufzend auf einen Hocker und bedeutete Fraser, sich ebenfalls zu setzen. »Weil Ihr ein aufrichtiger Mann seid, Mr. Fraser, und ich darauf vertraue, dass Ihr mir Eure aufrichtige Meinung sagen werdet. Und weil Ihr der einzige Mensch auf der Welt seid, mit dem ich offen sprechen kann, gottverdammt.«
Frasers argwöhnische Miene kehrte zurück, doch er setzte sich, lehnte die Heugabel an die Wand und sagte nur: »Dann sprecht.«
Er hatte sich die Worte auf dem Hinweg hundertmal zurechtgelegt und die Geschichte so knapp wie möglich gefasst. Es waren keine Einzelheiten nötig, und so erwähnte er auch keine. Keine Türknäufe.
»Und das ist mein Dilemma«, schloss er. »Ich bin der einzige Zeuge. Ohne meine Aussage wird er nicht überführt und verurteilt werden. Wenn ich vor dem Kriegsgericht lüge, bedeutet dies das Ende meiner Ehre. Wenn ich es nicht tue, bedeutet es das Ende seines Lebens oder seiner Freiheit.«
So offen zu sprechen, brachte ihm geradezu überwältigende Erleichterung, und Grey erinnerte sich mit einem Stich daran, dass er genauso empfunden hatte, als er Percy vom Tod seines Vaters erzählt hatte. Es war hilfreicher als stundenlanges Nachdenken;
die Einzelteile der Angelegenheit vor Fraser auszubreiten, machte ihm seine Entscheidung klarer.
Fraser hatte ihm die ganze Zeit aufmerksam und mit einem schwachen Stirnrunzeln zugehört. Jetzt blickte er - immer noch stirnrunzelnd - zu Boden.
»Dieser Mann ist Euer Bruder, Euer Verwandter«, sagte er schließlich. »Aber ein angeheirateter Verwandter, kein Blutsverwandter. Empfindet Ihr über diese Verpflichtung hinaus noch etwas für ihn? Freundschaft? Liebe?« Das letzte Wort war nicht besonders betont; Grey ging davon aus, dass Fraser nur die Liebe zwischen Familienmitgliedern meinte.
Er erhob sich von seinem Hocker und schritt nervös auf und ab.
»Keine Liebe«, sagte er schließlich. »Und keine Freundschaft.« Es waren zwar Spuren von beidem vorhanden, ja, doch sie waren nicht stark genug, um ihm sein Verhalten zu diktieren.
»Dann gibt also die Ehre den Ausschlag?«, sagte Fraser leise. Er stand ebenfalls auf und stützte sich auf die Heugabel, umrandet vom Schein der Laterne.
»Ja«, sagte Grey. »Aber welchen Weg diktiert mir die Ehre?«
Fraser zuckte sacht mit den Achseln, und Grey sah sein rotes Haar aufschimmern, weil sich ein Lichtstrahl darin fing, der oben auf dem Heuboden durch eine Ritze fiel.
»Für mich bedeutet Ehre möglicherweise nicht dasselbe wie für Euch, Major«, sagte er. »Für mich - für uns - ist unsere Familie gleichbedeutend mit Ehre. Natürlich«, sagte er und zog eine Augenbraue hoch, »werden auch Verbrechen geahndet. Aber durch den Clanshäuptling des Mannes, durch seine eigene Verwandtschaft - nicht durch einen Gerichtshof.«
Grey stand reglos da und ließ die Einzelteile des Puzzles an ihren Platz fallen.
»Ich verstehe«, sagte er langsam, und so war es auch. Er wusste jetzt, was er unter Ehre verstand. Am Ende war es ganz einfach, und die Erleichterung, zu einer Entscheidung zu finden,
überwog das Bewusstsein, dass er die Schwierigkeiten längst noch nicht überstanden hatte.
»Es geht um Ehre - aber nicht um die Ehre meines Rufs. Die Wahrheit«, sagte er langsam, denn jetzt war es ihm klar, »ist, dass ich nicht ehrenhaft zusehen kann, wie man ihn für ein
Weitere Kostenlose Bücher