Die Sünde der Brüder
Morgen eine Note gesandt - ich war dabei, als der Herr sie geöffnet hat, und ich, äh … habe zufällig gesehen …«
Grey, der sich nur mit Mühe beherrschen konnte, nickte. »Habt Ihr zufällig auch gesehen, wo sie sich treffen wollten? Und wann?«
»Edgware Road, ein Haus namens ›Morning Glory‹, vier Uhr«, ratterte der Butler herunter.
Ohne ein Wort steckte Grey sein Schwert wieder fest in die Scheide und ging. Er fühlte sich benommen, und ihm war schwindelig, als hätte ihm plötzlich jemand den Teppich unter den Füßen fortgezogen.
Es konnte nicht sein - und doch musste es so sein. Niemand außer seiner Mutter hätte diesen Titel benutzt. Und ihn Adams gegenüber zu benutzen, war eine direkte Herausforderung. Sie musste es sein. Doch wie war sie nach London zurückgekommen, und was in Gottes Namen hatte sie vor?
Von Furcht ergriffen rannte er zur Straße zurück, wo er seine Kutsche hatte warten lassen. ›Morning Glory‹. Er kannte das Haus; es war ein kleines, elegantes Haus, das den Walpoles gehörte. Was …?
»Edgware Road!«, rief er dem Kutscher zu, während er hastig einstieg. »Schnell!«
›Morning Glory‹ machte einen verlassenen Eindruck. Die Fensterläden waren geschlossen, der Springbrunnen im Vorgarten trocken, der Vorgarten selber nicht gefegt und mit einem Laubteppich übersät. Es hatte das Aussehen eines Hauses, dessen Bewohner aufs Land gereist waren und ihre Möbel mit Laken verhüllt und ihre Dienstboten ausbezahlt hatten.
Außerdem war weder die geringste Spur einer Kutsche oder eines Pferdes noch irgendeine Menschenseele zu sehen. Grey stieg leise die Eingangstreppe hinauf und blieb einen Moment stehen, um zu lauschen. Alles war still bis auf das Krächzen der Krähen auf den Bäumen im Garten.
Er ergriff den Türknauf; er drehte sich in seiner Hand. Nachdem er langsam die Luft ausgeatmet hatte, die er angehalten hatte, öffnete er die Tür und trat argwöhnisch ein.
Die Möbel waren tatsächlich mit Laken verhüllt. Wieder blieb er stehen und lauschte. Keine Stimmen. Kein Geräusch außer dem seines eigenen Atems. Er kannte das Haus, war schon einige Male bei musikalischen Abenden hier gewesen - die Gattin des derzeitigen Grafen von Orford sang, oder sie glaubte zumindest, es zu können.
Die Türen, die vom Foyer abgingen, standen offen - alle, bis auf eine. Diese führte, so glaubte er, in die Bibliothek. Er legte die Hand auf seinen Schwertknauf, entschied sich jedoch dagegen, die Waffe zu ziehen. Adams war ein schmächtiger Mann, der zwanzig Jahre älter war als Grey; er würde kein Schwert brauchen.
Er legte die Hand auf den Türknauf; er war aus weißem, mit Rosen bemaltem Porzellan, und ein Stich durchfuhr ihn, als er ihn jetzt kühl und glatt in seiner Hand spürte. Doch dies war
nicht der richtige Zeitpunkt, um an solche Dinge zu denken. Er schob die Tür vorsichtig auf - und sah sich einem Pistolenlauf gegenüber, der direkt auf ihn zeigte.
Er warf sich zur Seite und packte einen Stuhl, den er um ein Haar nach der Person mit der Pistole geworfen hätte.
»Himmel!«, sagte er. Im ersten Moment stand er da wie erstarrt, dann stellte er den Stuhl langsam hin und ließ sich am ganzen Körper zitternd darauf niedersinken.
»Was zum Teufel machst du hier?«, wollte seine Mutter wissen und senkte die Pistole.
»Dasselbe könnte ich dich auch fragen.« Das Herz hämmerte ihm in der Brust und sandte ihm mit jedem Schlag einen schmerzlichen Ruck durch den linken Arm. Der kalte Schweiß war ihm ausgebrochen.
»Das ist meine Sache«, sagte sie heftig. »Könntest du bitte gehen, zum Kuckuck?«
Er schenkte ihrer ungewohnten Ausdrucksweise keine Beachtung.
»Nein. Was hattest du denn vor? Mr. Adams bei seinem Auftauchen zu erschießen? Ist das Ding geladen?«
»Natürlich ist es geladen«, sagte sie ungeduldig, »und wenn ich vorgehabt hätte, ihn sofort zu erschießen, wärst du jetzt tot. Würdest du bitte gehen!«
»Nein«, sagte er knapp. Dann erhob er sich und griff nach der Pistole. »Gib das her.«
Sie trat zwei Schritte zurück und hielt sich die Pistole - die nicht nur geladen, sondern auch gespannt war - schützend an die Brust.
»John, ich möchte, dass du gehst«, sagte sie, so ruhig sie konnte, obwohl er den rapiden Puls ihrer Halsschlagader und das Zittern ihrer Hände sehen konnte. »Du musst gehen, und zwar sofort. Ich werde dir alles erzählen, das schwöre ich dir. Aber nicht jetzt .«
»Er kommt sowieso nicht.« So viel war ihm
Weitere Kostenlose Bücher