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Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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anderen Ende des Zimmers stand offen, sodass sich die hellen Vorhänge blähten, und er eilte hinüber, um es zu schließen.
    Doch dann blies ein Windstoß die Vorhänge einen Moment lang zur Seite, und er sah die schmächtige Gestalt, die mit wehenden Haaren und Röcken im Fenster stand.
    »Isobel!« Panik erfasste ihn, denn er war überzeugt, dass sie vorhatte, sich aus dem Fenster zu stürzen, und er warf sich nach vorn und packte sie so fest am Arm, dass sie schrie.
    »Isobel«, sagte er, diesmal sanfter. »Komm da fort. Du holst dir noch den Tod.«
    »Das will ich ja auch«, sagte sie mit erstickter Stimme und weigerte sich, ihn anzusehen, auch wenn sie sich von ihm ins Innere des Zimmers ziehen ließ. Ihre Kleider waren regenfeucht, das Haar hing ihr wild ins Gesicht, und ihre Haut war furchtbar kalt. Grey blickte zum Kamin hinüber, doch es brannte kein Feuer darin. Ohne ein Wort zog er seinen Rock aus und legte ihn ihr um die Schultern.
    »Es tut mir so leid, Kleine«, sagte er leise und streckte die Hand aus, um das Fenster zu schließen. Der Wind legte sich, und die halb durchnässten Vorhänge erschlafften. Sie stand reglos da, ein kleines, zerzaustes Wesen, wie eine Maus, die man aus der Schnauze einer Katze gerettet hat - vielleicht zu spät. Er berührte sie an der Schulter.
    »Lass uns nach unten gehen«, sagte er. »Du solltest etwas Heißes trinken, trockene Kleider anziehen -« Sie sollte ihre Mutter um sich haben, dachte er. Doch natürlich - sie hatte sich entschlossen, ihren Schmerz hier zu verbergen, um ihre Eltern nicht noch mehr zu bestürzen.

    Sie hob plötzlich den Kopf, ihr Gesicht eine Grimasse aus Verwirrung und Schmerz.
    »Meine Schwester ist tot«, sagte sie mit leiser, erstickter Stimme. »Wie soll ich weiterleben?«
    Er nahm sie in die Arme und hielt sie fest, während er ihr tröstend zumurmelte wie jemand, der einen verletzten Hund oder ein verängstigtes Pferd beruhigt. Schließlich klang sie tatsächlich fast wie ein Tier in Not; leises, schmerzerfülltes Wimmern, das hin und wieder von einem tiefen, gequälten Seufzer unterbrochen wurde. Wäre sie ein Pferd gewesen, hätte er sehen können, wie der Schmerz ihre Flanken durchlief. Er spürte ihn in Wellen kommen, die gegen seinen Körper schlugen.
    Sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit Geneva, denn sie war klein, sanft gerundet und blond wie ihre Mutter; Geneva war nach Lord Dunsany geraten, hochgewachsen und gertenschlank mit dichtem, kastanienbraunem Haar. Isobels Kopf passte bequem unter sein Kinn.
    »Mit der Zeit wird es besser«, flüsterte er ihr zu. »Erträglicher. Der Schmerz verschwindet zwar nicht - aber er wird erträglicher. Wirklich.«
    Sie riss sich aus seiner Umarmung. Ihr Gesicht war verzerrt.
    »Aber was soll ich jetzt tun? Wie soll ich bis dahin leben?« Sie schluchzte, wischte sich mit dem Ärmel über die laufende Nase und warf ihm einen wilden Blick zu. »Wie? Was kann ich tun ?«
    Er zögerte, denn er hätte ihr furchtbar gern etwas Nützliches gesagt, wusste aber, dass es nichts gab.
    »Ich … äh … habe Gegenstände entzweigeworfen«, offerierte er zögernd. »Als mein Vater gestorben ist. Es hat geholfen. Ein bisschen.«
    Sie blinzelte zitternd, und ihr entfuhr ein kurzes, hysterisches Kichern, das sie jäh erstickte, indem sie sich die Hand vor den Mund schlug. Dann zog sie diese langsam fort.
    »Oh, ich würde gern etwas zerwerfen«, flüsterte sie. »Bitte, bitte.« Große, blaue, von tränenverklebten Wimpern umrahmte Augen flehten ihn an, etwas Passendes zu suchen.

    Ein wenig ratlos sah er sich nach etwas Zerbrechlichem um, das nicht allzu kostbar war. Nicht der Waschkrug oder die Schüssel; der Kerzenhalter war aus Zinn… weil ihm nichts Besseres einfiel, ergriff er das Binsenlicht an der Tür und entzündete den Kerzenhalter daran. Bevor er den Binsendocht löschen konnte, hatte sie ihm das kleine Tongefäß abgenommen. Sie öffnete das Fenster und warf es mit aller Kraft in die Nacht hinaus.
    Er beugte sich neben ihr hinaus und sah es unter ihnen auf dem feuchten Dachschiefer sehr befriedigend in Stücke springen. Eine Spur aus verschüttetem Öl entzündete sich, eine kleine, züngelnde blaue Flamme, die kurz in Wind und Regen aufflackerte und dann erlosch.
    Das hellere Licht der frischen Kerze im Kerzenhalter zeigte ihm ihr Gesicht. Ihre blasse Haut war fleckig, sie hatte die Augen geschlossen, und ihr halb geöffneter Mund drückte Entspannung und Erleichterung aus. Sie

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