Die Sünde der Brüder
Grey Stimmen im Flur hörte und sich ebenfalls erhob. Hanks hatte die Dinge offenbar selbst in die Hand genommen; der Butler öffnete die Tür und verneigte sich, um Lady Dunsany und ihre Tochter Isobel ins Zimmer zu lassen, bevor er ihnen mit dem Brandytablett folgte.
»Lord John! Lord John!«
Das Eintreffen der Frauen hatte in etwa denselben Effekt wie das Schüren des Feuers; sofort schien es im Zimmer wärmer zu werden, und die abgestandene, kalte Luft des gräflichen Schlupfwinkels löste sich in einer Woge aus Gefühlen und trällernden Stimmen auf.
Natürlich waren sie in Trauer, und doch brachten sie Bewegung und Leben mit wie ein kleiner Starenschwarm.
Isobel weinte, aber, so hatte er das Gefühl, genauso sehr vor Dankbarkeit für seine Anwesenheit wie vor Schmerz. Sie warf sich an seine Brust, und er nahm sie sanft in die Arme, seinerseits dankbar, ihr wenigstens diesen simplen Dienst erweisen zu können. Ihren Eltern, so fürchtete er, hatte er sehr viel weniger anzubieten.
Lady Dunsany tätschelte ihm den Arm und hieß ihn lächelnd
willkommen, obwohl ihr Gesicht bleich und gefasst war. Dennoch entging ihm der Schmerz nicht, der in ihren Augen lauerte, und impulsiv zog er sie ebenfalls an sich.
»Meine Lieben«, murmelte er den Frauen zu. »Es tut mir so leid.«
Gewiss war ihnen genauso erschreckend bewusst wie ihm, wie erschütternd sich die Familie verkleinert hatte. Ihn überkamen die Erinnerungen an andere Gelegenheiten, bei denen sowohl Gordon als auch Geneva gemeinsam mit ihren Freunden das Haus bevölkert hatten und jeder seiner Besuche von Freude, Gelächter und endlosen Gesprächen erfüllt gewesen war.
Hanks hatte es selbst übernommen, den Brandy einzuschenken, und Lord Dunsany mit sanfter Gewalt ein Glas in die Hand gedrückt. Der alte Mann stand da und blinzelte es an, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Er sah weder seine Frau noch seine Tochter an.
Inmitten dieses Gefühlsaufruhrs wurde Grey bewusst, dass Lord Dunsanys Beschreibung seiner Frau weder bewundernd noch metaphorisch gewesen war; er hatte eine Tatsache konstatiert. Lady Dunsany war ein Fels. Sie akzeptierte seine Umarmung, ohne sich ihr zu überlassen.
»Aber wie ich höre, habt Ihr einen Enkelsohn, Lady Dunsany?«, sagte er und trat einen Schritt zurück, um sie anzusehen. »Ich hoffe, dem Kind geht es gut.«
»O ja.« Ihre Lippen zitterten ein wenig, aber sie lächelte. »Ja, er ist ein munterer kleiner Junge. Solch ein - solch ein Trost.«
Das kurze Zögern entging ihm nicht. Ihre Augen waren trocken, und sie blickte nicht ein einziges Mal zu ihrem Mann hinüber - obwohl sich Lord John nicht erinnern konnte, jemals erlebt zu haben, dass etwas anderes als Lord Dunsanys Wohlergehen im Zentrum ihres Interesses gestanden hätte. Ja, hier stimmte etwas ganz und gar nicht, über Genevas tragischen Tod hinaus.
Es ist alles meine Schuld , war es Lord Dunsany entfahren.
Er begann, seine Rolle hier zu verstehen. Er war neutraler Boden, Niemandsland. Oder Jedermanns.
Isobel erschien später nicht zum Tee.
»Sie ist so erschüttert, das arme Ding«, sagte Lady Dunsany, und ihre Lippen zitterten. »Sie hat so sehr an ihrer Schwester gehangen, und die Umstände - das Wetter war fürchterlich, und beinahe wären wir zu spät gekommen. Es hat sie furchtbar mitgenommen. Aber Eure Gesellschaft wird sie wieder aufrichten; es war so gütig von Euch zu kommen.« Sie bemühte sich nach Kräften, ihn anzulächeln, doch es war ein gespenstischer Versuch.
»Wenn die Beerdigung vorüber ist, wird sie sicherlich …« Sie verstummte, und ihr Gesicht schien in sich zusammenzufallen, als bedrückte die Vorstellung des Begräbnisses sie körperlich.
Der Abend rückte näher, und allmählich bekam er ein merkwürdiges Gefühl. Die Dunsanys waren stets eine liebevolle Familie gewesen, deren Mitglieder einander nahestanden, und er war nicht überrascht, dass Genevas Tod sie so traf. Er hatte das schon einmal miterlebt, als Gordon gestorben war. Doch damals hatten sie ihren Schmerz geteilt, und die Familienmitglieder waren einander nähergerückt, um sich in ihrer Trauer gegenseitig zu stützen.
Das war jetzt anders. Er saß zwischen seinem Gastgeber und seiner Gastgeberin an der Teetafel und hätte ebenso gut am Äquator sitzen können, zwischen zwei gefrorenen Polen aus Eis und Schnee. Beide sprachen freundlich und mit großer Höflichkeit - mit ihm. Genaue Beobachtung brachte ihn auf den Gedanken, dass die Anspannung zwischen
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