Die Sünde der Brüder
dabei das Gefühl gehabt, dass dieser Tag mehrere Jahre gedauert hatte und es mehr als an der Zeit war, dass der Schlaf ihn auslöschte.
Doch perverserweise verweigerte sich ihm der Schlaf, der des Grams verworr’n Gespinst entwirrt. Stattdessen bezog die böse Fee der Schlaflosigkeit am Fußende seines Bettes Position und rief ihm genüsslich alles erneut ins Gedächtnis, von der blutigen Beschreibung, mit der Tom ihm Genevas Tod ausgemalt hatte, bis hin zu den betrunkenen Selbstvorwürfen ihres Vaters, der sich selbst die Schuld an allem gab, angefangen damit, dass er die Ehe arrangiert hatte, bis dahin, dass er Geneva zu viel Freiheit gelassen hatte.
Er übernachtete im selben Zimmer, das sie ihm jedes Mal gaben. Es hieß das ›Blaue Zimmer‹, nach der gemusterten Seidentapete, auf der sich holländische Alltagsszenen in Delfter Blau auf cremefarbenem Hintergrund wiederholten. Es hatte eine maskuline Aura, war luxuriös möbliert, besaß einen großen Kamin und war eines der komfortabelsten Zimmer im ganzen Haus. Und doch fühlte er eine Kälte und Unrast, die nicht zu seiner Umgebung passen wollten.
Er war so müde, dass es an Erschöpfung grenzte, war aber
trotz des Weins und der späten Stunde nicht in der Lage, sich entspannt dem gemütlichen Federbett zu überlassen. Tom hatte ihm einen Krug mit heißer Milch in ein Handtuch gewickelt und auf den Tisch gestellt. Er lächelte, denn Toms Fürsorge rührte ihn - allerdings hatte er seit über fünfzehn Jahren keine warme Milch mehr getrunken, und noch war er nicht verzweifelt genug, um damit zu beginnen.
Er legte sich wieder auf den Rücken und hoffte, dass ihm diese Haltung etwas von seiner Anspannung nehmen würde, doch die Kerze löschte er nicht. Eine Zeit lang sah er zu, wie das Feuer den Szenen auf der Tapete Leben einhauchte, und legte die flache Hand neben sich auf die leere Matratze. Wie oft hatte er diese heiteren blauen Szenen schon gesehen? Seit Beginn seiner Offizierslaufbahn war er regelmäßig auf Helwater zu Besuch - damals hatte ihn Gordon, der Sohn der Dunsanys, eingeladen. Gordon war während des Jakobitenaufstandes ums Leben gekommen, und in ihrem Schmerz hatten die Dunsanys Grey als eine Art Pflegesohn angenommen. Und jetzt hatten sie auch noch eine Tochter verloren.
Wie alt war Geneva bei seinem ersten Besuch gewesen? Vier? Fünf?
»Siehst du das da?«, flüsterte er wie an eine unsichtbare Person gerichtet. »Das mit dem Segelboot? Das ist mein Lieblingsbild. Ich kann mir gut vorstellen, über die Kanäle in Holland zu segeln und zu sehen, wie sich die Windmühlen drehen.«
Was ist eine Windmühle, Sir ? Die geflüsterten Worte existierten nur in seinem Kopf, doch sein Arm beugte sich, um sich in der Erinnerung um ein kleines Mädchen zu legen, das mitten in der Nacht in sein Zimmer geschlichen war, weil es Angst vor einem Alptraum hatte.
»Eine große Mühle, so ähnlich wie die Mühle am Fluss. Mit Mühlsteinen. Aber sie hat kein Rad, das vom Wasser gedreht wird. Stattdessen sind oben auf der Mühle vier große Segel angebracht, wie Arme. Sie werden vom Wind gedreht, und so wird das Korn gemahlen. Da an der Wand ist eine - siehst du sie?«
Doch er hörte keine Antwort, nur das leise Knistern und Zischen der feuchten Stellen im brennenden Torf. Sein Arm entspannte sich wieder, und er strich sanft die Bettdecke glatt, als sei sie das zerzauste, seidige Haar eines kleinen Mädchens, das aus der Nachthaube entwischt war.
So blieb er eine Weile liegen und ließ seine Gedanken wandern, während er die flackernden blauen Umrisse an der Wand betrachtete. Dann wurde ihm bewusst, dass er immer noch die Bettdecke streichelte, langsam, dass das Bild in seinem Kopf jedoch nicht mehr das Haar eines Kindes war. Weich, aber nicht so fein. Drahtige Locken. Dunkel. Und ein imaginäres Gefühl der Wärme, das von der Haut darunter aufstieg.
»Himmel«, sagte er und ballte die Hand zur Faust. Er erhob sich, durchquerte das Zimmer und riss den Schrank auf. Suchend tastete er in der Dunkelheit nach seiner Rocktasche, spürte jedoch kein knisterndes Papier und klammerte seine Finger plötzlich alarmiert in den Stoff, bevor er den Brief erspähte, den Tom ordentlich zu seinen Haarbürsten auf das Wandbord gelegt hatte.
Sein Herz schlug schneller, als er ihn ergriff und schräg hielt. Die Haarsträhne fiel ihm in die Hand. Dunkel, eine einzelne Locke, mit einem roten Band umwickelt.
Ich muss immerzu an Euch denken .
Er faltete den Brief
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