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Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Mann, der nachts in der Kapelle kniet und betet. Was für einen Geist hat denn Eure Familie, Lord John?«
    »Oh, wir sind nicht so respektabel, dass wir einen hätten«,
versicherte er ihr ernst. »Höchstens ein paar Leichen im Keller.«
    Das hatte sie maßlos zum Lachen gebracht - sie konnte ja nicht wissen, wie viel Wahrheit in seinen Bemerkungen gesteckt hatte, dachte er und lächelte schwach bei der Erinnerung. Das Lächeln verschwand, als er begriff, dass er sie nie wieder lachen hören würde.
    Plötzlich war er sich ihres Fehlens schmerzhaft bewusst. Die Trauer ihrer Familie hatte ihn so sehr beschäftigt, dass er Genevas Verlust bis jetzt nur aus ihrer Perspektive erlebt hatte, als etwas Fürchterliches, aber aus sicherer Entfernung; jetzt, in der völligen Einsamkeit der Nacht, begriff er ihn auch als den seinen. Einen Moment lang stand er da, und ihr Tod war ein jäher, kleiner Riss in seiner Seele.
    Da er dies nicht lange ertragen konnte, griff er mit plötzlicher Entschlossenheit in den Schrank, fand seinen Umhang, warf ihn sich um die Schultern, schob die Füße in seine Filzpantoffeln und trat in den Flur hinaus. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich. Er würde ihr wenigstens unter vier Augen Adieu sagen.
    Im Inneren des Hauses einen Raum zu finden, den er nur einmal von außen gesehen hatte, war eine kleine Herausforderung; wie die meisten alten Häuser war auch Helwater stückweise entstanden, so wie es die Finanzen und die Launen des jeweiligen Grafen wollten. Daher war es riesig - Lady Dunsany hatte ihm erzählt, dass der gesamte Ostflügel im Winter geschlossen wurde - und es gab nicht einen Gang, der auf geradem Wege irgendwo hinführte.
    Doch er hatte einen guten Orientierungssinn, und er wusste, dass sich die Kapelle an der nordwestlichen Ecke des Hauses befand. Er arbeitete sich durch die gewundenen Flure vor, wie er es in einem Labyrinth tun würde, indem er im Kopf mitzählte, wann er um eine Ecke bog, um später den Rückweg zu finden. Er stellte fest, dass ihm diese Denkaufgabe zumindest im Moment half, seine Gefühle in Schach zu halten.
    Es hatte den ganzen Tag unablässig geregnet, ein trostloser
winterlicher Landregen, der sich genauso auf die Seele legte wie auf die Erde. Jetzt war Wind aufgekommen, und der Regen trommelte stoßweise gegen die geschlossenen Fensterläden und untermalte seinen Weg durch die dunklen Korridore. Er hatte eine Kerze aus seinem Zimmer mitgenommen, und ihr schwaches Glimmen leuchtete ihm den Weg. Im Schatten bewegte sich etwas, und er blieb abrupt stehen.
    Eine Sekunde lang glühten grüne Augen auf, dann erloschen sie, und die Katze - es war nur eine Katze - schlich an seinen Füßen vorbei und verschwand, lautlos wie Rauch. War das Genevas Katze? Er wusste, dass sie einmal ein Kätzchen gehabt hatte. Ob sie es nach Ellesmere mitgenommen hatte? Vielleicht hatte ihre Mutter es mit zurückgebracht. Vielleicht … vielleicht versuchte er ja, seine Gedanken mit unwichtigen Details zu beschäftigen, um nicht an Genevas Tod denken zu müssen, noch während er zu ihrer Bahre unterwegs war.
    Sein Herz schlug immer noch wie eine Trommel, und er fragte sich, was er eigentlich hier tat. Doch er war so weit gekommen; jetzt kehrtzumachen wäre ihm so vorgekommen, als ließe er sie im Stich. Eine Sekunde lang schloss er die Augen und stellte sich erneut den Lageplan des Hauses vor, den er im Kopf anfertigte, dann öffnete er sie wieder und setzte sich zielsicher erneut in Bewegung.
    Ein paar Wendungen weiter stand er auf einmal vor einer Wand, die eine Außenmauer des Hauses zu sein schien. Ihre mit Flechten bewachsenen Steinblöcke wurden durch einen geschwungenen Torbogen aus honigfarbenem Stein unterbrochen.
    Das war eindeutig der Eingang der Kapelle; in den Torbogen waren Heiligen- und Engelsfiguren eingemeißelt. Sie waren der Verstümmelung durch Cromwells Vandalen im vergangenen Jahrhundert entronnen. Im Zentrum des Torbogens machte er eine Figur aus, die den Erzengel Michael darstellen musste, denn sie hielt ein flammendes Schwert erhoben. Unter ihm kauerten Adam und Eva hinter groben Feigenblättern, und Eva
hatte die Hände züchtig vor den ausladenden Brüsten gekreuzt. Also doch keine Heiligen. Auf der anderen Seite des Bogens hing der gewundene Körper einer Schlange aus dem Geäst eines Apfelbaums. Ihre Miene war überlegen und belustigt.
    Heiliger Michael, steh uns bei . Die Worte kamen ihm ganz plötzlich in den Sinn, obwohl er weder katholisch noch

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