Die Sünde der Brüder
auseinander und las die Zeile noch einmal, um des schieren Vergnügens willen, die Worte auf der Seite zu sehen. Betrachtete sie einige Sekunden lang, dann faltete er das Blatt sorgsam zusammen und legte es wieder an seinen Platz.
Eigentlich verstörten ihn die Worte im selben Maß, in dem sie ihn freuten. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn die Gedanken an Percy bis nach Helwater verfolgen würden, und er war sich nicht sicher, was er empfand. Er hoffte natürlich, dass sie etwas zwischen sich entdecken würden. Aber er hatte keine Ahnung, was das sein könnte oder wohin es führen könnte. Wenn es überhaupt geschah, so stellte er sich vor, dass es in London war. London war eine andere Welt, und es war beinahe so, als wäre er dort ein anderer Mensch.
Andererseits wusste er ganz genau, was er für Jamie Fraser empfand. Und hier in Helwater zu sein, nicht mehr als hundert Meter von Frasers Aufenthaltsort entfernt, war eigentlich schon verstörend genug. Er hatte das irrationale Gefühl, irgendwie Verrat zu begehen, indem er sich so über Percys Brief freute … Aber woran denn, zum Kuckuck?
Einem Impuls folgend zog er die schweren blauen Samtvorhänge vom Fenster zurück. Es war eine bewölkte Nacht, und es regnete heftig, doch der Himmel strahlte einen schwachen, finsteren Schimmer aus, das diffuse Licht des verborgenen Mondes. Durch den Regen, der an der Fensterscheibe hinunterlief, konnte er den verschwommenen Umriss des Stalldaches erkennen.
»Verdammt«, sagte er leise und trat vom Fenster zurück. Er ging durch das Zimmer und ergriff wahllos hier und da einen Gegenstand, um ihn dann wieder hinzulegen. Er versuchte, zu seinem Gedankengang von vorhin zurückzukehren - oder jeden Gedanken zu verdrängen und seinen Kopf zu leeren, um zu schlafen -, doch seine Bemühungen waren fruchtlos. Jamie Fraser blieb hartnäckig mitten vor seinem inneren Auge stehen. Grey hatte ihn nach seiner Ankunft kurz gesehen - er hatte Greys Pferd in den Stall gebracht -, hatte aber keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen.
Um Himmels willen, John, sei vorsichtig .
Abrupt hatte er die Worte seiner Mutter im Ohr, und er schüttelte den Kopf, als wollte er eine störende Mücke verscheuchen.
Und was in Gottes Namen hatte seine Mutter damit gemeint? Sie meinte eindeutig Fraser; es war die Erwähnung des Mannes und seiner Verbindung zu den Jakobiten gewesen, die ihr solche Angst - ja, Angst - gemacht hatte. Warum? Was in aller Welt glaubte sie denn, wonach er Fraser fragen könnte? Oder was er von ihm erfahren könnte?
Irgendetwas, das mit dem Tod seines Vaters zu tun hatte. Diese Worte stiegen mit großer Kälte aus den finsteren Tiefen seines eigenen Kopfes auf. Er schob sie wie automatisch beiseite.
Sein Vater war seit fast zwanzig Jahren tot. Hin und wieder dachte er an seinen Vater, nie jedoch an seinen Tod. Und er hatte auch jetzt nicht vor, daran zu denken.
Doch der Gedanke an den Tod erinnerte ihn plötzlich wieder an Geneva. Wo war sie wohl heute Nacht? Nicht im spirituellen Sinne - er vertraute vage darauf, dass sie im Himmel sein musste, obwohl er keine konkrete Vorstellung von diesem Ort hatte -, sondern im physikalischen?
Morgen war die Beerdigung. Ihre Leiche … Er blickte beklommen in die schwarze Nacht vor seinem Fenster hinaus, als könnte sie dort umherschweben, ihm totenblass entgegenstarren, während ihr der strömende Regen das kastanienbraune Haar an den Schädel klebte.
Er zog die Vorhänge fest zu. Sie würde in ihrem Sarg liegen, fertig für die Prozession zur Kirche am Morgen. War sie irgendwo im Haus? Gewiss lag sie nicht im Schafstall oder in einem trostlosen Schuppen irgendwo auf dem Anwesen.
Die Kapelle . Natürlich. Sofort fiel es ihm ein. Er war noch nie in der Kapelle von Helwater gewesen; sie stammte aus einem weiter zurückliegenden Jahrhundert, als die Wastwater-Grafen noch katholisch waren, und sie wurde seit Jahren nicht mehr benutzt. Doch er wusste, wo sie sich befand; Geneva selbst hatte sie ihm einmal gezeigt und mit einer achtlosen Geste auf die kleine, gemauerte Kammer gezeigt, die wie eine Seepocke an der Westseite des Hauses klebte.
»Das ist die alte Kapelle«, hatte sie gesagt. »Wusstet Ihr, dass wir dort einen Geist haben?«
»Nun, das hoffe ich doch«, hatte er im Scherz geantwortet. »Jede respektable Familie hat doch mindestens einen, oder nicht?«
Im ersten Moment hatte sie ihn merkwürdig angesehen, dann aber gelacht.
»Unserer ist ein Mönch, ein junger
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