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Die Sünde der Brüder

Die Sünde der Brüder

Titel: Die Sünde der Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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überhaupt religiös war. Doch die schottischen Gefangenen in Ardsmuir hatten es oft gesagt. Er hatte es häufig auf Gälisch gehört, und schließlich hatte er an einem der Abende, an denen sie gemeinsam speisten, Jamie Fraser nach der englischen Bedeutung gefragt.
    Hier war er eindeutig richtig. Eine kleine Öllampe, die im Inneren des Torbogens brannte, tauchte das Gesicht des Erzengels in Licht und Schatten, und durch die Spalte zwischen den beiden Türflügeln unter dem Bogen konnte er Kerzenlicht flackern sehen. Noch einmal fragte er sich, was er hier tat, und er zögerte einen Moment, dann zuckte er mit den Schultern und murmelte: »Heiliger Michael, steh uns bei.« Er schritt unter dem Bogen hindurch.
    Die Kapelle war winzig klein und dunkel bis auf die großen weißen Kerzen, die an Kopf und Fuß des geschlossenen Sarges brannten. Er war in weiße Seide gehüllt und schimmerte wie Wasser.
    Er trat einen Schritt darauf zu. Etwas Großes regte sich in der Dunkelheit zu seinen Füßen.
    »Himmel!«
    Er ließ die Kerze fallen und fuhr sich mit der Hand an den Gürtel - an dem er leider keinen Dolch stecken hatte.
    Eine dunkle Gestalt erhob sich ganz langsam von den Steinen zu seinen Füßen zu immenser Größe.
    Sämtliche Haare seines Körpers standen ihm zu Berge, und das Herz donnerte ihm in den Ohren, während ihm die Erkenntnis dämmerte und er vergeblich versuchte, seinen Schrecken zu überwinden. Die Kerze war erloschen, und der Mann war nur als dunkler Umriss zu sehen. Die Kerzenflammen in seinem Rücken setzten ihm einen Heiligenschein auf.

    Er schluckte krampfhaft, um sein Herz wieder an seinen Platz zu zwingen, und suchte nach irgendwelchen Worten, die nicht die pure Gotteslästerung waren.
    »Ach du lieber … Himmel«, brachte er nach mehreren gestammelten Versuchen zuwege. »Was in Gottes Namen macht Ihr denn hier?«
    »Beten«, sagte eine leise schottische Stimme, allerdings nicht leise genug, um den Schrecken darin zu verhüllen - und eine noch deutlichere Wut. »Was macht Ihr hier?«
    »Beten?«, wiederholte Grey ungläubig. »Flach auf dem Boden?«
    Er konnte Frasers Gesicht zwar nicht sehen, hörte ihn aber zischend einatmen. Sie standen so dicht beieinander, dass er die Kälte spürte, die von Frasers Körper ausging, als sei sein Gegenüber aus Eis gemeißelt. Himmel, wie lange hatte der Mann auf den eisigen Steinplatten gelegen? Und warum? Jetzt, da sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, sah er, dass der Schotte nichts anderes trug als sein Hemd; sein hochgewachsener Körper war ein Schatten, und der Kerzenschein leuchtete gedämpft durch den abgetragenen Stoff hindurch.
    »Es ist ein katholischer Brauch«, sagte Fraser, und seine Stimme war genauso steif wie seine Haltung. »Eine Geste des Respekts.«
    »Ist das so.« Der erste Schreck der Begegnung ließ jetzt nach, und Grey stellte fest, dass ihm das Sprechen wieder leichter fiel. »Ihr werdet mir verzeihen, Mr. Fraser, dass ich diese Behauptung sehr merkwürdig finde - genau wie Eure Gegenwart hier.« Auch er wurde jetzt wütend und hatte das absurde Gefühl, dass man einen Scherz mit ihm trieb - obwohl ihm die Logik sagte, dass sich Fraser nur deshalb so vor ihm erhoben hatte, weil Grey im nächsten Moment auf ihn getreten wäre, nicht um ihn zu überrumpeln.
    »Es ist mir vollkommen gleichgültig, Major, was Ihr merkwürdig findet und was nicht. Wenn Ihr gern glauben möchtet, dass ich lieber in Gesellschaft einer Leiche in einer eiskalten Kapelle schlafe als in meinem Bett, will ich Euch nicht daran
hindern.« Er bewegte sich, als wollte er an Grey vorübergehen, offenbar um die Kapelle zu verlassen - doch der Mittelgang war schmal, und Grey rührte sich nicht vom Fleck.
    »Habt Ihr die - die Gräfin gut gekannt?« Seine Neugier wurde jetzt stärker als sein Schock und seine Wut.
    »Die Gräfin … oh.« Fraser sah sich unwillkürlich nach dem Sarg um. »Das war sie wohl. Eine Gräfin. Und ja, ich habe sie gut gekannt. Ich war ihr Stallknecht.«
    Diese Bemerkung war nun wirklich merkwürdig, stellte Grey interessiert fest. Der Satz »Ich war ihr Stallknecht« war voller Gefühl, aber er konnte absolut nicht sagen, was für ein Gefühl es war.
    Im ersten Moment fragte er sich, ob Fraser Geneva geliebt hatte - und empfand bei diesem Gedanken einen überraschenden Stich der Eifersucht. Da er wusste, was Fraser für seine verstorbene Frau empfand, ging er zwar davon aus… doch warum in Gottes Namen sollte er dann mitten in der

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